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Rezensionen zu
Nebenan

Kristine Bilkau

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Klug beobachtet, fesselnd erzählt

Von: litera.lilly

13.08.2022

Ein wunderbarer Roman, in dem die Zwischentöne die Melodie ergeben. Kristine Bilkau breitet ihre Erzählung so ruhig und einladend vor einem aus, dass ich mich von Beginn an wohlgefühlt habe, umgeben von ihren Worten. Sie wirft einen genauen Blick auf das, was anderswo häufig "Sozialraum" genannt wird - auf das Leben, welches um einen herum stattfindet, die Orte denen man sich zugehörig fühlt und die Menschen, deren Lebenswege die eigenen beiläufig kreuzen. Kristine Bilkau stellt zwei Frauen in den Mittelpunkt des Romans, die an unterschiedlichen Punkten im Leben stehen und beide in das soziale Geflecht eines kleinen Ortes am Nord-Ostsee-Kanal eingebunden sind. Julia, Ende 30, mit ihrem Mann erst vor kurzem zugezogen, hat sich mit einem eigenen Keramikgeschäft einen Traum erfüllt, hegt jedoch einen bislang unerfüllten Kinderwunsch. Astrid, Anfang 60, Ärztin und Mutter von erwachsenen Kindern, steht kurz davor ihre eigene Praxis aufzugeben und mit ihrem Mann das Leben als Rentnerin kennenzulernen. Doch es sind nicht die eigenen linearen Lebenswege, die hier im Fokus stehen, es sind die Berührungspunkte mit Menschen, die man nur flüchtig kennt und die dennoch einen impact auf das eigene Leben haben. Da ist die ältere Dame, die alleine im großen Haus wohnt und manchmal durch die Nachbarschaft streift. Der kleine Junge, der in fremden Gärten scheinbar jemanden sucht. Die Nachbarin, die nach dem Ärger mit dem Sohn wegziehen musste. Die alte Dame, die tot in der Badewanne aufgefunden wurde, von ihrem Mann erst spät vermisst. Und schließlich die Familie, die plötzlich verschwunden ist, die mit dem ruppigen Mann und der erschöpften Mutter, niemand weiß, wo sie sind. Geschickt bespielt Bilkau die Frage, wann Sorge um einen anderen Menschen berechtigt ist, wann man Verantwortung für seine Beobachtungen übernehmen sollte und wann das eigene Interesse übergriffig wird. Es sind diese kleinen Situationen, die Unwohlsein und Sorge auslösen, die auf Gewalt gegen Frauen hindeuten, die jedoch uneindeutig genug erscheinen, um einem selbst die Wahl zu überlassen: aufmerksam hinterfragen oder unbeteiligt bleiben. Ein Buch, das fesselt und gleichzeitig sensibilisiert für das Leben "nebenan".

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Es ist jetzt schon einige Wochen her, dass ich diesen Roman beendet habe, und immer noch habe ich das Gefühl, mit einer Rezension der Erzählung nicht gerecht werden zu können. Kristine Bilkau hat mit ihrer Komposition, dem melancholisch-leisen Ton, dem verdichteten und dabei doch so präzise ausgeloteten Schreibsil bei mir jedenfalls einmal mehr ins Schwarze getroffen. Im Grunde ist dieser Roman eher handlungsarm. Die Perspektive wechselt stetig zwischen der Enddreißigerin Julia, die mit Mann und Hund in ein kleines Dorf am Nord-Ostseekanal gezogen ist, und der etwa sechzigjährigen Astrid, deren Mann bereits im Ruhestand ist, und die selbst darüber nachdenkt, ihre Arztpraxis zu verkaufen und nur noch wenige Tage in der Woche zu arbeiten. Der eigentliche Fokus des Romans liegt auf der Gedanken- und Gefühlswelt der beiden weiblichen Hauptcharaktere, und auch das kann ungemein spannend sein. Kristine Bilkau jedenfalls lotet hier geheime Wünsche, Sehnsüchte und Ängste aus, wodurch der Roman eine große Intensität erlangt. Als dritter Protagonist fungiert hier noch ein verlassenes Haus, dessen Bewohner, eine fünfköpfige Familie, von einem Tag auf den anderen verschwunden sind. Der Briefkasten quillt über, und vor allem Julia als direkte Nachbarin macht sich so ihre Gedanken. Hätte sie etwas bemerken müssen? Probleme der Nachbarn erkennen? Auf sie zugehen? "Eine Trennung, ein Streit um das Sorgerecht, psychische Erkrankungen, finanzielle Probleme, die meisten Familien bemühten sich doch eher darum, jede Art von Schwierigkeit so lange wie möglich mit sich allein abzumachen. Wie gut musste man einen Menschen kennen, um etwas zu bemerken, um sicher sein zu können, dass etwas nicht stimmte? Und wie konnte man sicher voneinander unterscheiden, was Vermutungen und was Vorurteile waren? Wie nah musste man einem Menschen sein, um aus einem Verdacht heraus eine Frage stellen zu können, ohne neugierig oder aufdringlich zu wirken?" (S. 74) Doch bei diesen Fragen bleibt es nicht. Wie gut kennen wir eigentlich die, denen wir nahestehen? Hält nicht jede:r Geheimnisse verborgen, die, wenn sie ans Tageslicht kommen, Bilder verändern können? Was geschieht mit uns, wenn wir obsessiv einem Lebenstraum hinterherjagen und uns darüber zu verlieren drohen? Wie sehr beherrschen Ängste das Leben und unser Handeln? Fragen, denen sich die Charaktere im Buch stellen müssen, die aber auch den/die Leser:in anrühren. Sind das nicht existentielle Fragen? Wie nebenher flicht Kristine Bilkau noch weitere Themen ein und streift Problemfelder wie die Landflucht junger Menschen, die Vergreisung ganzer Landstriche, die Verödung von Innenstädten und deren schrumpfende Attraktivität, die lieblose Maschinerie künstlicher Befruchtung, die Hoffnungslosigkeit angesichts skrupelloser Umweltverschmutzung, die Vereinsamung des Einzelnen in der Gesellschaft. So zusammengefasst erschlägt es einen beinahe, aber die Autorin bemüht sich um eine erträgliche Dosis, die allerdings den melancholischen Grundton stetig speist. Ein handlungsreduzierter, leiser aber intensiver Roman über Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste - reduziert im Schreibstil, dabei präzise ausgelotet. Für mich ein Jahreshighlight! © Parden

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Nebenan – unbedingt wollte ich dieses Buch (ist es ein Roman? Ich weiß es nicht so genau!) lesen. Bei Luchterhand weiß man: da wartet gute Literatur. Aufgeräumte Cover, beeindruckende Sprache und ein relevantes Thema. Für solche Bücher braucht es auch immer die richtigen Momente im Leben. Literatur passt nicht immer, nicht zu jeder Zeit findet jeder Zugang. Obwohl ich dem Erscheinungstermin entgegenfieberte, brauchte ich drei Anläufe, um über das zweite Kapitel hinauszukommen. Und ich brauchte richtig lange, für ein richtig schmales Buch. Heute konnte ich es beenden, gestern reflektierte ich, was das Buch mit mir macht. Denn es macht etwas mit einem. Es bewegt, es wühlt auf. Dieses Buch hat eine unglaubliche Macht! Von Abhandensein von Geborgenheit und Vertrautheit im Großen, etwa in der Stadtentwicklung, über grundständiges Fehlen von Zugehörigkeit zu so etwas elementarem wie Familie, wie bei den Jugendlichen im Heim, über einen immer kleiner werdenden Radius führt die Autorin hin zu innerer Ungebundenheit und höchst persönlichen Sehnsüchten. Durch die unmittelbare, eindrückliche und präzise Sprache der Autorin wird das Ungebunden sein eines Protagonisten direkt auf die Leser:innen zurückgeführt. Jedes Kapitel nimmt die Leser:innen mit zu einem anderen Leben. Später, nachdem man eine Innenschau auf einzelne Protagonisten hatte oder ganz distanziert von deren Leben erfährt, ihnen zuschaut, wie sie den Ursachen ihrer Sehnsüchte auf die Spur kommen, wird auf die vorhergehenden Protagonisten zurückgeschwenkt. Das ist enorm anstrengend. Aber es vermittelt allein durch den Stil des Buches die Ungebundenheit zwischen den Protagonisten. Die Geschichte einer Person, ihr Leben, ihr Inneres, wird nicht einmal in der Story zusammengehalten. Auf diese Weise sequenziert die Autorin die Leben von normalen, eigentlich nicht wirklich spannenden, Menschen, die Nachbarschaft als gemeinsames Thema hätten. Das des Geschichtslehrers in Rente, der sich im Außen verliert und seine Zeit mit Fernsehen, Nachrichten und Problemen der Welt verbringt, aber keine Anbindung an sich, Freunde, Hobbys oder seine Ehe bekommt. Seine Frau, Astrid, steht noch mitten im Leben. Sie ist mit ihrem Eigenen so beschäftigt, dass sie die Situation des Mannes nicht richtig einschätzt, sich aber mit Ängsten trägt und das Eigene nicht zum Gemeinsamen macht. Dann gibt es eine Familie, die so wenig angebunden ist an ein soziales Netz, dass das Verschwinden zuerst gar nicht auffällt und dann --- Auch innerfamiliär zeigen sich Lücken in der Verbundenheit und Geborgenheit. Die Keramikerin ohne eigene Herkunftsfamilie, die Unerwartetes erfährt und es bei sich behält, weil es niemanden gibt, dem sie sich vertrauensvoll und in Geborgenheit zuwenden kann mit diesem Thema – obwohl sie nicht allein ist. Einmal meint man, Protagonisten nähern sich wieder an, überwinden die Ängste. Bilkau lässt auch äußerlich keinen Zweifel, dass es Versuche gibt, und trennt die Kapitel über die jeweiligen Protagonisten nur mit einem Kapitel über eine andere Figur. Sonst muss man oft mehrere Kapitel warten, bis sie wieder auf die jeweiligen Protagonisten zurück kommt. Sie zeigt damit die Dynamik von Ängsten, Sehnsucht und Verbundenheit: Es gibt keine einzuhaltende Distanz, Zeit oder Form. Zutiefst menschliche Themen entwickeln sich dynamisch. Dabei lässt sie ihre Leserschaft nicht außen vor. Ganz ohne Kitsch, Klischee und regelhaften Happy Ends hat man am Ende das Gefühl, für sich persönlich doch etwas mitgenommen zu haben. Das Buch führt gekonnt Ungebundenheit, Fehlen von Geborgenheit und Einsamkeit im sozialen Raum, im familiären Rahmen und im Inneren vor Augen. Nein, es fasst die Leserschaft an, es nimmt mit. Darauf muss man sich einlassen (können). Bilkau ist etwas ganz Großes gelungen. Ich vermute, diese Story wird mich noch eine Weile gedanklich begleiten! Große Empfehlung: NEBENAN Ein Roman von Kristine Bilkau Erschienen im Luchterhand Literaturverlag Am 8.3.2022

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Der Roman hat mir von der ersten bis zur letzten Zeile gefallen. Ich mag die berührende Sprache. In alle Frauen kann ich mich einfühlen und die Gegend in Norddeutschland habe ich direkt vor Augen. Die Hauptrollen haben Julia und Astrid. Um Astrid herum stromern noch ihre ehemalige Freundin Marli, die neuerdings wieder im Nachbarhaus lebt, und ihre alte Tante Elsa, um die sie sich aufgrund des Alters zu sorgen beginnt. Julias Mutter ist früh verstorben und im Lauf der Geschichte setzt Julia sich damit auseinander, was ihre Mutter dazu bewogen haben mag, sich schwanger vom Ehemann zu trennen. Die Begründung, dass sie nur Kraft für ein Kind und nicht auch noch für einen Ehemann gehabt habe, wirft viele Fragen auf. Ebenso wie Julias Mutter ihr Kind lieber mit Freundschaften als einer Ehe umgegeben hat, ist Elsa eine starke Frau, die als 17jährige mit zwei jüngeren Schwestern von zu Hause geflohen ist und die Verantwortung für sich und die beiden übernommen hat. Was mag passiert sein, dass sie diese Entscheidung getroffen hat? Julias Mutter und Elsa eint, dass sie außergewöhnlich viel Verantwortung für ihr Leben und das ihrer Familienmitglieder übernommen haben. In Astrids Leben verändert sich gerade einiges, da ihr Mann frisch in Rente ist und sie eine Nachfolge für die Praxis sucht, um langsam kürzer zu treten. Sie trauert um die verlorene Freundschaft mit Marli und versucht, neue zarte Bande zu knüpfen. Beim Schwimmen tankt sie mit jeder Bahn Kraft. Und alle mache sich Gedanken um die Familie aus dem ohne Ansage leerstehenden Haus, aus dem keiner so ganz ausgezogen ist … Es wirkt langsam ebenso verfallen wie der Leerstand im der nahen Kreisstadt, der ebenso ein Thema ist. 5-Sterne-Lesetipp!

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Vielleicht sollte man eine Rezension einmal völlig anders aufbauen. Weniger mit dem Fokus auf das Innenleben des Buches, sondern auf seine Wirkung. Es gibt zu viele Geschichten, die schnell erzählt, aber genauso rasch wieder vergessen sind. Ganz anders bei "Nebenan". Man scheint sie zu kennen, denn sie spielen sich so oder anders in der eigenen, unmittelbaren Nachbarschaft ab. Einen Namen hat die Stadt, um die es hier geht, nicht. Braucht sie auch nicht, denn diese Beobachtungen sind mühelos übertragbar auf jeden beliebigen Ort. Wie ist das mit diesem schon länger leer stehenden Haus in jener Straße, in der wir selbst wohnen. Was ist mit jener Familie geschehen? Gestorben sind sie nicht. Man hätte davon doch etwas gehört. Oder etwa nicht? Was weiß und wusste man überhaupt über sie? Umgekehrt wird es genauso sein. Was ist über uns bekannt, was über die beiläufigen Gespräche, in den Straßen oder vor der Haustür, hinausgeht? Die Läden, einst auch Stätten der Begegnungen, werden immer weniger. Sie sterben mit den Menschen, die einst auf sie angewiesen waren. Auch diese seltsame, offenbar alleine lebende Frau in dem alten Haus bei uns gegenüber kommt mir zwangsläufig wieder in den Sinn. Unnahbar wirkend, leicht abwesend und vielleicht in einer anderen Welt lebend, änderte sich das Bild von ihr, als durch Zufall ein Gespräch entstand. Aber der mehr oder weniger deutliche Hilferuf einer Seele, die sich der Verzweiflung nähert, verhallte im Sumpf der Ratlosigkeit. Vor der eigenen Haustür gibt es schließlich genug zu kehren. Wie nahe sich doch Wirklichkeit und Fiktion stehen: "Nebenan" erzählt von einer verschwundenen Familie und dem leerstehenden Haus, das sie hinterlassen haben, um welches sich jetzt Geschichten ranken wie außer Kontrolle geratene Kletterpflanzen. Von der über sechzigjährigen, alteingesessenen Ärztin Astrid, die, scheinbar gefestigt und doch durch den Verlust einer Freundschaft leidend, geradewegs in eine Krise steuert. Von jenem zugezogenen Paar aus Hamburg, Julia und Chris, sie Keramikerin, er Biologe, die sich den dringenden Wunsch nach einem eigenen Kind bisher nicht erfüllen konnten. Oder von jener Marli, die nach langer Zeit plötzlich wieder auftaucht. Von Knatsch und Tratsch sowieso. Von Fragen, die nur von dem eigenen Dilemma ablenken. Das Leben in dieser Stadt am Nord-Ostsee-Kanal ist so, wie das Leben überall ist. Eine Kunst ist es, das so zu erzählen. Die unglaubliche Präzision der Beobachtungen erzeugen eine altbekannte Vertrautheit, die bisher nur diffus in der Wirklichkeit schwebte, jetzt aber klar zu erkennen und zu definieren ist. Unklares wird zumindest begreifbarer, was gleichzeitig nicht immer bedeutet, alles verstehen zu können. Beispielsweise die "Achtlosigkeit zwischen Erwachsenen". "... Es sind eigentlich fast immer die Kleinigkeiten, an denen das Traurige sich festmacht..." Eine ebenso "solide" wie geradlinige Story mit "Hand und Fuß" darf also keinesfalls erwartet werden. Und das ist gut so, denn das Leben hat mehr zu bieten. Diese Momentaufnahmen sind wie Puzzleteile eines Bildes, das niemals fertig werden wird. Wir alle werden geboren, leben mitten darin und müssen dereinst gehen, ohne das Gesamtwerk je betrachtet zu haben. Dazwischen sind wir auf der Suche nach einem Platz, wo wir hingehören, nach etwas Vertrautem und Menschen, denen wir uns zugehörig fühlen, vielleicht auch einer allgemeinen Akzeptanz, die sich aber im ständigen Widerspruch mit dem Wunsch nach Rückzug auf private Inseln befindet. Wohin sollte man sich vor Klatsch und Mutmaßungen sonst retten? Alles wirkt so, wie das Leben in unser Straße. Dort, wo man abends immer das blaue Licht eines Fernsehers flackern sieht. Dort, wo viele schon seit Jahrzehnten leben, sich trennten, krank wurden oder starben. Das alles geht viel zu schnell und "... diese gemeinsam durchlebten Kapitel lassen das, was noch kommen kann, so vorgezeichnet wirken."

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Wo sind die Winters? Keine*r hat die Familie in den letzten Wochen gesehen. Ihr Haus steht leer, aber auch wieder nicht leer genug, dass von einem Auszug ausgegangen werden kann. Julia, direkte Nachbarin der „verschollenen“ Familie, die niemand so richtig zu kennen schien, versucht, dem Verschwinden auf den Grund zu gehen. Doch nicht nur die Grübelei über die Abwesenheit von Mona, Erik und ihren Kindern treibt Julia um: Seit Jahren will ihr tief verwurzelter Wunsch nach einem Kind, einer Familie gemeinsam mit ihrem Mann Chris, einfach nicht in Erfüllung gehen. In ihrem vor kurzem eröffneten Keramikladen im Dorf findet sie Zuflucht: vor dem Alltag, vor sich selbst und dem Druck der Gesellschaft. Auch Astrid, Ärztin kurz vor der Rente, plagen Sorgen: Ein*e anonyme*r Briefeschreiber*in stellt ihre Reputation in frage und macht ihr Vorwürfe, Vorwürfe, die sich in der Provinz schnell herumsprechen würden. Sie braucht eine Freundin, der sie sich anvertrauen kann. Nachbarin Marli war eine ebensolche, doch alte Wunden der Vergangenheit haben sie voneinander entfernt... „'Wir sind auf viele Arten immer nur fast gestorben und haben uns gegenseitig gerettet. Nur zum Spiel'“ (S. 246) – „Manches ist offenbar ganz von allein miteinander verbunden, ohne dass man etwas dafür tun muss“ (S. 267) Mit sensibler Hand führt Kristine Bilkau ihre Leser*innen durch den Alltag von Julia und Astrid, zwei Frauen, deren Leben sich sachte berühren, leicht verwoben sind und die sich beide durch ihre Eigenständigkeit auszeichnen. Das Motiv des Nebenans, des Nahen und gleichzeitig doch so Ungewissen, durchzieht die Erzählung, die so viel mehr als ein reiner Dorfroman ist, wie ein roter Faden, wie der Kanal, der die beiden Dorfhälften gleichermaßen trennt und verbindet. Gerade diese Metapher der gleichzeitigen Verflechtung und Separierung dominiert die beiden Handlungsstränge. Während Julia kurz vor der Vierzig der Zeit hinterherrennt, in stetiger Sorge, die ersehnte Mutterschaft nicht mehr erreichen zu können, sieht sich Astrid mit dem Alter konfrontiert: ihrem eigenen, dem ihres Mannes und dem ihrer Tante Elsa, der letzten Verbindung zu den vergangenen Generationen. „Wo gehöre und gehörte ich hin?“ ist wohl eine der wesentlichen Fragen, die durch die so leise und nach außen unaufgeregte Erzählung schleicht. Erst nach und nach häuten sich die beiden Protagonistinnen, offenbaren ihre gegenwärtigen wie vergangenen Verletzungen, betreiben Selbstreflexion, ohne dabei in Larmoyanz abzudriften. Hier geht es um das wahre Leben, um zwei Frauen, die ihren Alltag mit all ihrer Kraft meistern, die für sich selbst und für andere einstehen, die ihre Probleme und Sorgen angehen, die aber auch immer wiederkehrende Fehler machen, sich selbst hintanstellen. Gerade die brüchig gewordene Freundschaft zwischen Astrid und Marli, der ehemaligen und nun wieder zurückgekehrten Nachbarin, steht sinnbildlich für die Vergänglichkeit einerseits und für die Energie der Selbstbestimmtheit. Kristine Bilkau gelingt es vorzüglich, ihren Figuren Leben einzuhauchen, sie mit beiden Beinen fest in der Erde zu verwurzeln. „Nebenan“ wird dadurch im besten Sinne zu einem Roman der Bodenständigkeit, einem Stück Literatur, das in seiner Alltäglichkeit und in seiner einfühlsamen Sprache zu berühren weiß. Hier braucht es keine Skandale, keine Katastrophen, Affären oder Eklats. Hier regiert das pure Leben, das der Schnelllebigkeit der Gegenwart die Stirn bietet. Ein wunderbares Buch einer berührend aufmerksamen Erzählerin!

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Nebenan

Von: Elena_liest

22.05.2022

Julia ist Ende 30, hat sich gerade mit ihrem Partner ein altes Haus auf dem Land am Nord-Ostsee-Kanal gekauft, das sie gemeinsam renovieren, und einen kleinen Laden für handgemachte Keramik eröffnet. Eigentlich könnte sie glücklich sein - wäre da nicht ihr unerfüllter Kinderwunsch. Astrid, Anfang 60, ist die Ärztin des kleinen Ortes. Sie wohnt schon lange hier, hat ihre Söhne im Dorf großgezogen und würde sich gerne mit ihrem Mann zur Ruhe setzen - doch sie findet keine Nachfolge für ihre Praxis. Verbunden sind die beiden Frauen durch die Familie, die bei Julia nebenan wohnte. Über Nacht scheinen die Eltern mit ihren drei Kindern verschwunden zu sein, der Briefkasten quillt über und sowohl Julia, als auch Astrid machen sich Gedanken: Was ist mit der Familie geschehen? Gab es eine Flucht? Streit? Gewalt? Leise, unaufgeregt kommt Kristine Bilkaus Roman "Nebenan" daher und trifft die Lesenden dann doch mit Wucht. Sprachlich ganz fein flicht die Autorin eine Geschichte über weibliches Leben, patriarchale Gewalt, das Älterwerden, die schwächer werdenden Strukturen auf dem Land und Nachbar*innenschaft. Dabei äußern sich die verschiedenen Themen mal ganz offensichtlich, beispielsweise wenn Julia mit den erniedrigenden Strukturen in der Kinderwunschklinik konfrontiert wird, mal aber auch sehr subtil, etwa wenn Astrid zu einer toten Frau gerufen wird, die bereits die ganze Nacht in der Badewanne gelegen hat und ihr Gedankenkarussell langsam anspringt. Mich hat "Nebenan" ungemein gefesselt und begeistert. Von Beginn an habe ich mich in Kristine Bilkaus Sprache verliebt, wurde immer neugieriger und angespannter beim Lesen, wurde ganz in die Gefühlswelt von Astrid und Julia - zwei Frauen zweier unterschiedlicher Generationen - gezogen. Die Autorin zeichnet ihre Figuren mit viel Feingefühl sowie großer Sorgfalt und auch dieses kleine Dorf am Nord-Ostsee-Kanal, seine Vergreisung, die Landflucht, fängt sie mit großer Genauigkeit ein. Durch das leerstehende Haus der Familie nebenan erhält der Roman zudem noch eine sehr beklemmende, beunruhigende Komponente, die mich das Buch kaum noch aus der Hand legen ließ. Vielschichtig, ruhig, und absolut lesenswert!

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"Wie gut musste man einen Menschen kennen, um etwas zu bemerken, um sicher sein zu können, dass etwas nicht stimmte? Und wie konnte man sicher voneinander unterscheiden, was Vermutungen und was Vorurteile waren? Wie nah musste man einem Menschen sein, um aus einem Verdacht heraus eine Frage stellen zu können, ohne neugierig oder aufdringlich zu wirken?" (S. 74) Vor kurzem erst haben Julia und ihr Freund Chris der Großstadt den Rücken gekehrt. Neuer Start, neues Glück; sie waren die Hektik und die Geschwindigkeit leid, suchten Entschleunigung und Ruhe und fanden sie in dem kleinen Ort am Nord-Ostsee-Kanal. Was nun noch fehlt: ein Kind. Nichts wünscht sich Julia mehr als werdende Mutter, eine Mutter im Werden genannt zu werden, diesen zart-pudrigen Geruch einzuatmen und die Wärme eines kleinen Wesens zu spüren. Aber ihre Gedanken werden zunehmend mit etwas Anderem eingenommen: Von einem Tag auf den anderen verschwinden ihre Nachbarn plötzlich. Der kleine Junge auf seinem Laufrad, die schwangere Mutter, der Vater, der ihnen penetrant Wein zu verkaufen versucht, "Freundschaftsangebot". Der Briefkasten quillt über, und kein Wort des Abschieds. Doch warum nur? Auch Astrid, Anfang sechzig, wird zunehmend von Sorgen geplagt: Seit Jahrzehnten führt sie erfolgreich eine Praxis mit festem Patientenstamm, bis sie eines Tages mysteriöse Briefe erhält, in denen ihr Ansehen als Ärztin beschmutzt, an ihren Fähigkeiten gezweifelt wird. Damit nicht genug, scheint es ihrer Tante mit dem Alter immer schlechter zu gehen, sie scheint verwirrt, beinahe dement - und ist doch der letzte familiäre Anker, den sie hat. Und dann ist da der Junge, der einen Zettel an die Tür des leerstehenden Hauses klemmt. "Es sind die Kleinigkeiten, es sind fast immer die Kleinigkeiten, an denen das Traurige sich fest macht." (S. 20) Dieses Buch fühlt sich an wie Heimkommen, wohlig-warm und unglaublich geborgen: "Nebenan" von Kristine Bilkau. Zärtlich und mit feinem Blick für das, was in Julia und Astrid passiert, so unterschiedlich und im Grunde doch so nah, verwebt sie die Schicksale der beiden Frauen nur sanft touchierend miteinander, lässt abwechselnd einen Blick in ihrer jeweiligen Leben zu. Sie beeinflussen einander nicht, kennen sich nur flüchtig, aber sind doch Teil derselben Umgebung, einer sozialen Gemeinschaft, deren Miteinander von geopolitischen und Gentrifizierungsmaßnahmen beeinflusst wird. Auch auf dem Land wird alles teurer, da ist es rentabler, leerstehende Gebäude derart zu belassen als zu sanieren. Kommt doch eh keiner von den jungen Leuten hier raus. Trotz ihres Altersunterschieds von fast dreißig Jahren sind es doch ähnliche Probleme, die sie beide beschäftigen: Sie sehnen sich nach Geborgenheit, nach Nähe, diesem anderen Menschen, den sie verloren haben oder sehnsüchtig erwarten, und doch bleiben sie auf der Stelle stehen. Ob aus Angst vor der Wahrheit, warum Marli Astrid nach all den Jahren, wo sie in den kleinen Ort zurückkehrte, nicht wieder in ihr Leben lässt; oder als Laune des Schicksals, dass es einfach nicht klappt, sie einfach nicht schwanger wird. Was resultiert, ist Ungewissheit, dieses Zwicken in der Brust. Und Frustration, all die Versuche, Marli unbemerkt näher zu kommen, ein Kind zu bekommen; die Distanz, die die alte Freundin aufbaut, die Julia von ihrem Glück trennt; beide gehen ans Äußerste, stark, vulnerabel, menschlich. Und müssen sich in der Gesellschaft doch immer wieder als Frau behaupten. Trotz all der ehrlichen Emotionen, der Verzweiflung und der Dringlichkeit, dem Verschwinden der Nachbarsfamilie auf die Spur zu kommen, ist es diese Ruhe, die den Roman so besonders macht. Sie macht all die harten Themen, die die Autorin behandelt, irgendwie erträglicher, denn es sind Probleme, die alltäglich sind: häusliche Gewalt, Fehlgeburt, Umweltverschmutzung. Gerade im Begriff, die Tränen wegzublinzeln, legen sich die Worte wie eine tröstende Hand auf mein Herz, beruhigen es. Sie tragen den Geruch salziger Luft, einer kühlen Brise heran, streuen Sand unter meine Füße und wirken entspannend wie eine warme Milch mit Honig. Danke für diese Geschichte, @kristinebilkau.

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