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Rezensionen zu
Die Verwandelten

Ulrike Draesner

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€ 26,00 [D] inkl. MwSt. | € 26,80 [A] | CHF 35,50* (* empf. VK-Preis)

Ulrike Draesners Werk „Die Verwandelten“ war nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse. In meinen Augen völlig zu Recht. Es ist sprachgewaltig, tiefgreifend, erschütternd und zeichnet ein Bild von Frauen in verschiedenen Epochen. Es ist ein Buch der Gegensätze, zwischen Liebe und Hass, Ausgrenzung und Vereinigung, Freude und Schmerz. Es ist eine Suche nach Identität und die Notwendigkeit der Verwandlung. Es ist ein Brechen des Schweigens. - Thematisch ergründet die Autorin eine Familiengeschichte, erzählt aus der weiblichen Perspektive. Da ist Kinga, die junge Anwältin, die erst nach dem Tod ihrer Mutter Alissa auf die Spur ihrer Familie stößt. Doro, die nach und nach erkennt, dass in der Familie viele Geheimnisse herrschen. Allisa, geboren in einem Lebensbornheim und auf der Suche nach ihren Wurzeln. Walla/Reni die fast ihr Leben lang schweigt über ihre Geschichte. Else und Adele mit denen alles begann. 3 Generationen vom Nationalsozialismus bis in die Jetzt-Zeit. - Der Roman hat mich sowohl emotional, als auch intellektuell gefordert. Die sprachliche Ausarbeitung ist anspruchsvoll und verlangt Konzentration beim Lesen. Wechselnde Schreibstile, je nach erzählender Person, der Einbau von polnischen und schlesischen Worten, teils verwirrender Satzbau, aber auch die Poesie zwischen den Zeilen… Die Anstrengung hat sich gelohnt. Draesner schreibt über die Macht von Männern, die sie über Frauen ausüben, sie schreibt darüber, dass sie sich nehmen, was sie wollen, sie schreibt über die Qualen, die diese Unterdrückung verursacht. Das Kriegsgeschehen, die Flucht, das Leid, welches Frauen ertragen, von sexueller Belästigung und Vergewaltigung bis hin zu körperlicher Gewalt und Ausbeutung, stehen im Fokus. Die Autorin findet hier sehr ausdrucksstarke, klare Worte und ich kann nicht behaupten, dass es Spaß macht dies alles zu lesen. Es macht wütend, fassungslos, erzeugt Mitgefühl und zeugt von einer gewissen Ohnmacht. Nichtsdestotrotz ist es unglaublich wertvoll. Es gibt Frauen eine Stimme und bricht das Schweigen über die Geschehnisse der Kriegs- und Nachkriegszeit. Überdies zeigt sie die Nachwirkungen auf folgende Generationen auf, diese Haltlosigkeit, die daraus resultiert, wenn man seine Wurzeln nicht kennt. Die Lebensborn-Heime werden thematisiert und es wird einmal mehr klar, dass damals unglaublich viel im Argen lag. Es wurden damit „Zuchtanstalten“ für „gute Bürger“ geschaffen, Familien auseinander gerissen, Dokumente gefälscht. Ein Prozedere welches es fast unmöglich machte mehr über seine Herkunft zu erfahren. Auch psychische Erkrankungen spielen eine Rolle. Depressionen und PTBS waren nicht selten, wurden aber natürlich nicht als solche erkannt, geschweige denn behandelt. Nein, es gab Zeiten, als diese Erkrankungen sogar versteckt und von den Angehörigen verschleiert werden mussten, da sonst die Deportation drohte. Man könnte nun den Eindruck bekommen, dass der Roman erdrückend, schwer, hoffnungslos und traurig ist und dies mag zum Teil auch stimmen, aber er ist auch voller Freude an den kleinen Dingen, voller Mut. Er gibt den Frauen die Möglichkeit gehört zu werden und zeugt von einer unglaublichen Stärke. Ja die Handelnden haben unglaublich viel Leid erfahren, aber sie haben überlebt, sie haben sich neu erfunden und irgendwie weitergemacht. Während ich den letzten Satz geschrieben habe, überkommt mich wieder eine tiefe Wut und auch Verzweiflung, da ich einsehen muss, dass es immer noch aktuell ist. Klar herrscht gerade kein Krieg bei uns, wir müssen uns nicht um essen oder ein Dach über dem Kopf sorgen, und sicher ist für Frauen vieles besser geworden und trotzdem gibt es immer noch Frauen, die Überlebende sind, die versuchen müssen sich neu zu erfinden und irgendwie weiter machen. Letztendlich glaube ich, dass der Text uns auch sagen will, dass es immer noch ein Kampf ist, aber Schweigen keine Lösung darstellen kann.

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Kinga, alleinerziehende Anwältin aus Berlin, fährt nach Hamburg, um einen Vortrag über die nationalsozialistischen Lebensbornheime zu halten, jene Heime, die für staatlich geprüften Nachwuchs sorgen und unverheiratete Schwangere an einer Abtreibung hindern sollten. Kingas Interesse hat einen persönlichen Grund, ist doch ihre eigene Mutter in so einem Heim zur Welt gekommen und später von einem ideologisch gefestigten Paar adoptiert worden. Doch nach dem Vortrag wird sie von einer in Hamburg lebenden Polin angesprochen, die ihre Mutter gekannt hatte. Und nicht nur das, Doro entpuppt sich zudem als entfernte Verwandte, denn die leibliche Mutter von Kingas Mutter stammte aus Breslau, jetzt Wroclaw. Die neugefundene Verwandtschaft führt dazu, dass Kinga sich auf familiäre Spurensuche begibt, doch als Leser*innen erfahren wir die Familiengeschichte nicht nur aus ihrer Perspektive, sondern auch aus der der anderen Frauen in der Familie. Ulrike Draesner lotet in ihrem neuen Roman aus, welche Auswirkungen der Krieg auf die Frauen hat und wie man über das sprechen kann, was am besten ungesagt bleibt. Es geht um Grenzverschiebungen und -verletzungen, staatliche und persönliche, sexuelles Ausgeliefertsein und das Schweigen darüber. Auch die eigenen Herkunftserzählungen verschieben sich, denn was ist schon deutsch, was polnisch, wenn die Länder wechseln, ohne dass die Menschen dafür umziehen müssen. Oder wegmüssen, aber im Geiste bleiben und dadurch nirgendwo mehr ankommen. Die Autorin beschreibt, wie sehr sich auch das Ungesagte auf die nachfolgenden Generationen auswirkt, sie erzählt von brüchigen Familien und ungeklärten Verbindungen. Jedem Kapitel ist ein Gedichtfragment vorangestellt, das die Lücken und Streichungen in den Familiengeschichten deutlich macht. Draesner schreibt in einer poetischen Sprache, die genau ist und reflektiert, dabei jedoch nah an den Figuren bleibt. So erschafft sie auf knapp 600 Seiten einen vielstimmigen Blick auf ein Stück mitteleuropäische Frauengeschichte, die bis heute nachwirkt. Mich hat dieser Roman absolut begeistert, er gehört jetzt schon zu meinen Jahreshighlights!

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Die Schriftstellerin Ulrike Draesner beschäftigt sich schon seit langem – autobiografisch oder biografisch inspiriert – mit den Themen Flucht, Vertreibung und transgenerationelle Weitergabe von Traumata, 2014 erschien Sieben Sprünge vom Rand der Welt, 2020 Schwitters, die zusammen mit dem jüngst veröffentlichten Die Verwandelten eine lockere, inhaltlich nicht voneinander abhängende Trilogie ergeben. Das vorangestellte Motto verrät, woher der Titel des Romans stammt. Es sind Ovids Metamorphosen, ein Epos voll sexualisierter Gewalt gegen Frauen und daraus abgeleiteter Machtausübung, und aus diesen die blutige Geschichte von Philomela, derer sich Ulrike Draesner bedient. Philomela, die vom Mann ihrer Schwester begehrt und vergewaltigt wird und der, um die Tat zu vertuschen, von diesem die Zunge herausgeschnitten wird. Das Schweigen, zu dem sie dadurch verurteilt wird, steht sinnbildlich für das Schweigen, dem viele Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, aus den verschiedensten Gründen unterworfen sind. Und, noch allgemeiner, für das Schweigen der Generationen, die im vergangenen Jahrhundert traumatische Gewalterfahrungen gemacht und die sie weitgehend durch Schweigen verdrängt haben: die Kriegskinder. Dass diese Traumata sich auf nachfolgende Generationen quasi „vererben“, sei es durch Genveränderungen oder weitergegebene Erfahrungen oder Verhaltensmuster, hat die wissenschaftliche Forschung mittlerweile bewiesen. „Inzwischen wusste man, dass nichts, was stattgefunden hatte, einfach so wieder verschwand.“ Ulrike Draesner zählt sich als 1962 Geborene zu der in der Psychologie als „Nebelkinder“ bezeichneten Alterskohorte, also der Kriegsenkel, die den Krieg nicht selbst miterlebt haben, deren Eltern durch ihn als Kinder oder Jugendliche aber traumatisiert wurden, diese Traumatisierungen ähnlich wie deren Eltern die Verstrickungen in den Nationalsozialismus und die dadurch aufgeladene Schuld aber selten angesprochen haben. Dieses Verschwiegene und unter der Oberfläche Gärende hat viele dieser Kriegsenkel geprägt. „Wie hört ein Krieg für ein Mädchen auf, das ihn nicht erlebte, bloß groß werden musste in ihm, obwohl er vorbei war – weil jene, die groß waren, wie es hieß, klein geblieben waren, eben durch diesen Krieg?“ Anhand einer kompliziert zusammengesetzten Familie aus Wrocław, dem bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mehrheitlich deutschsprachigen Breslau, erzählt Ulrike Draesner in Die Verwandelten fast einhundert Jahre europäische Geschichte, und zwar aus weiblicher Sicht. Erzählt von Krieg und Gewalt, Schwäche und Stärke der Frauen, Schmerz und Scham, Solidarität und Mutterschaft, Familienbanden und Heimat. „Zuhause ist, wo man aufbricht. Zuhause war am Anfang. Im Lauf des Lebens geht das unter. Aber verliert sich nicht.“ Es beginnt mit der Anwältin Kinga Schücking im heutigen Berlin. Nicht zufällig ist Kinga spezialisiert auf Erbrecht. Bei einem Vortrag, den sie in Hamburg zu erbrechtlichen Fragen bei „Zukunftsformen von Elternschaft“ halten soll und für den sie sich als Tochter einer in einem sogenannten „Lebensbornheim“ der Nationalsozialisten aufgewachsenen, alleinstehenden Mutter und als Adoptivmutter eines Mädchens mit „anderer Hautfarbe“ auch persönlich qualifiziert fühlt, spricht sie eine Frau namens Dorota an. Die beiden Frauen sehen sich frappierend ähnlich und es stellt sich heraus, dass sie den gleichen Großvater besitzen. Eine für Kinga verblüffende Neuigkeit, da sie bisher angenommen hatte, dass der Vater ihrer Mutter ein Vertreter der „nordischen Rasse“ war, wie es im Lebensborn-Projekt Heinrich Himmlers zum „Erhalt der arischen Rasse“ vorgeschrieben war. Die SS-eigenen Heime ermöglichten „rassehygienisch einwandfreien“ unverheirateten Frauen und Mädchen eine anonyme Geburt, um sie von einem Schwangerschaftsabbruch abzuhalten. Die Kinder wurden danach zur Adoption durch parteinahe Ehepaare freigegeben. Der erste Teil von Die Verwandelten ist dem 21. Jahrhundert gewidmet, in Rückblenden wird aber nach und nach die komplizierte Familienstruktur aufgeblättert. Kingas Mutter Alissa, nach der Adoption durch NS-Vorzeigemutter Gerda und ihren Mann Gerd „Gerhild“ genannt, war die uneheliche Tochter von Dorotas Großvater Marolf mit dem Dienstmädchen Adele, die diese auf Bestreben seiner Frau ins Lebensbornheim Steinhöring geben musste. Die eheliche Tochter Reni ist Dorotas Mutter. Die Spur von Adele verliert sich noch vor dem Krieg. Reni und ihre Mutter erleben auf ihrer Flucht vor der Roten Armee 1944/45 Entsetzliches. Ulrike Draesner steigert die Intensität von Die Verwandelten mit Fortschreiten des Textes, der in Teil 2 und 3 auf das blutige 20. Jahrhundert fokussiert, Flucht, Vertreibung, Kriegsgewalt direkt thematisiert. Der Übergang geschieht durch sogenannte „Wurmlöcher“. Eingeleitet wird jedes Kapitel durch lyrische Absätze, Gesänge der „gezwungenen Kinder“ bzw. der „gezwungenen Mütter“. Diese Passagen arbeiten mit Auslassungen, Streichungen, erschließen sich manchmal, oft aber auch nicht. Ulrike Draesner macht es ihren Leser:innen nicht unbedingt leicht. Ihr Roman ist sprachlich und inhaltlich fordernd, ein wahres „Dornenheckenlabyrinth“. Man verlässt es nach dem Lesen sicher nicht völlig unverletzt. So intensiv sind manche Abschnitte, so gegenwärtig wird die Vergangenheit. Kriegerische Gewalt, die sich immer wieder gegen Frauen richtet, staatliche Gewalt, männliche Gewalt. „Wir, die Frauen von 1900, wurden in jedem der deutschen REICHE benutzt wie Teig. durch die Kriege hindurch: geknetet, geknechtet, gebraucht.“ Der Text wird immer dunkler, wird nicht linear erzählt, springt, hüpft, wechselt Sie- und Ich-Perspektiven der verschiedenen Protagonistinnen, bindet schlesische und polnische Wendungen ein – furios, aufwühlend, mutig. Sprachlosigkeit als Überlebensstrategie, man versteht das, man staunt über die Resilienz der Frauen, trotz allem. „Wir waren beschädigt, aber es war vorbei, wir hatten überlebt, außen wummerte, innen wimmerte das Herz, jeder Tag wog schwer.“ Sie alle sind Die Verwandelten. Sie ändern notgedrungen und als Rettung ihre Namen, ihre Identitäten, ihre Lebenswelten. Und bewahren Dinge als Zuflucht, als eine Verkörperung von „Zuhause“, wie das Bild des in Breslau geborenen Malers Adolf Menzel „Das Balkonzimmer“. Licht flutet darauf durch ein Fenster hinein. Und das Buch endet, schon im Nachwort, in dem Ulrike Draesner erzählt wie eine Zuhörerin bei einer Lesung ihr die Geschichte von Reni/Walla quasi „geschenkt“ hat, mit einem Satz Sigmund Freuds. „Wenn jemand spricht, wird es hell.“ „Alle `Umstände´ sind akribisch recherchiert. Alle Figuren präzise erfunden. Sie agieren als Mäntel, als Schutzhüllen. Im Laufe des Schreibens wurde mir deutlich, dass ich Fiktion neu verstand: eine Folie, im Nachhinein um verletzte Körper geschlungen, (…)(die) dank ihrer nicht `in sich verstummt´ bleiben müssen.“ Die Verwandelten ist ein großes, ein großartiges, ein vielstimmiges, ungeheuer intensives Buch, mit dem es Ulrike Draesner schafft, das zu oft Verschwiegene schonungslos und doch zart zu erzählen. Sprachlich anspruchsvoll und beeindruckend gelungen, aufwühlend, klug und erhellend. „Das nachhängend Gewaltsame der Gewalt war, dass sie nicht erlaubte, Geschichten zu Ende zu erzählen.“ Wie gut, dass es Schriftsteller:innen wie Ulrike Draesner gibt, denen es gelingt, das zu durchbrechen.

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