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Rezension zu
Die Verwandelten

Verwandlungen

Von: Literaturreich
06.03.2023

Die Schriftstellerin Ulrike Draesner beschäftigt sich schon seit langem – autobiografisch oder biografisch inspiriert – mit den Themen Flucht, Vertreibung und transgenerationelle Weitergabe von Traumata, 2014 erschien Sieben Sprünge vom Rand der Welt, 2020 Schwitters, die zusammen mit dem jüngst veröffentlichten Die Verwandelten eine lockere, inhaltlich nicht voneinander abhängende Trilogie ergeben. Das vorangestellte Motto verrät, woher der Titel des Romans stammt. Es sind Ovids Metamorphosen, ein Epos voll sexualisierter Gewalt gegen Frauen und daraus abgeleiteter Machtausübung, und aus diesen die blutige Geschichte von Philomela, derer sich Ulrike Draesner bedient. Philomela, die vom Mann ihrer Schwester begehrt und vergewaltigt wird und der, um die Tat zu vertuschen, von diesem die Zunge herausgeschnitten wird. Das Schweigen, zu dem sie dadurch verurteilt wird, steht sinnbildlich für das Schweigen, dem viele Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, aus den verschiedensten Gründen unterworfen sind. Und, noch allgemeiner, für das Schweigen der Generationen, die im vergangenen Jahrhundert traumatische Gewalterfahrungen gemacht und die sie weitgehend durch Schweigen verdrängt haben: die Kriegskinder. Dass diese Traumata sich auf nachfolgende Generationen quasi „vererben“, sei es durch Genveränderungen oder weitergegebene Erfahrungen oder Verhaltensmuster, hat die wissenschaftliche Forschung mittlerweile bewiesen. „Inzwischen wusste man, dass nichts, was stattgefunden hatte, einfach so wieder verschwand.“ Ulrike Draesner zählt sich als 1962 Geborene zu der in der Psychologie als „Nebelkinder“ bezeichneten Alterskohorte, also der Kriegsenkel, die den Krieg nicht selbst miterlebt haben, deren Eltern durch ihn als Kinder oder Jugendliche aber traumatisiert wurden, diese Traumatisierungen ähnlich wie deren Eltern die Verstrickungen in den Nationalsozialismus und die dadurch aufgeladene Schuld aber selten angesprochen haben. Dieses Verschwiegene und unter der Oberfläche Gärende hat viele dieser Kriegsenkel geprägt. „Wie hört ein Krieg für ein Mädchen auf, das ihn nicht erlebte, bloß groß werden musste in ihm, obwohl er vorbei war – weil jene, die groß waren, wie es hieß, klein geblieben waren, eben durch diesen Krieg?“ Anhand einer kompliziert zusammengesetzten Familie aus Wrocław, dem bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mehrheitlich deutschsprachigen Breslau, erzählt Ulrike Draesner in Die Verwandelten fast einhundert Jahre europäische Geschichte, und zwar aus weiblicher Sicht. Erzählt von Krieg und Gewalt, Schwäche und Stärke der Frauen, Schmerz und Scham, Solidarität und Mutterschaft, Familienbanden und Heimat. „Zuhause ist, wo man aufbricht. Zuhause war am Anfang. Im Lauf des Lebens geht das unter. Aber verliert sich nicht.“ Es beginnt mit der Anwältin Kinga Schücking im heutigen Berlin. Nicht zufällig ist Kinga spezialisiert auf Erbrecht. Bei einem Vortrag, den sie in Hamburg zu erbrechtlichen Fragen bei „Zukunftsformen von Elternschaft“ halten soll und für den sie sich als Tochter einer in einem sogenannten „Lebensbornheim“ der Nationalsozialisten aufgewachsenen, alleinstehenden Mutter und als Adoptivmutter eines Mädchens mit „anderer Hautfarbe“ auch persönlich qualifiziert fühlt, spricht sie eine Frau namens Dorota an. Die beiden Frauen sehen sich frappierend ähnlich und es stellt sich heraus, dass sie den gleichen Großvater besitzen. Eine für Kinga verblüffende Neuigkeit, da sie bisher angenommen hatte, dass der Vater ihrer Mutter ein Vertreter der „nordischen Rasse“ war, wie es im Lebensborn-Projekt Heinrich Himmlers zum „Erhalt der arischen Rasse“ vorgeschrieben war. Die SS-eigenen Heime ermöglichten „rassehygienisch einwandfreien“ unverheirateten Frauen und Mädchen eine anonyme Geburt, um sie von einem Schwangerschaftsabbruch abzuhalten. Die Kinder wurden danach zur Adoption durch parteinahe Ehepaare freigegeben. Der erste Teil von Die Verwandelten ist dem 21. Jahrhundert gewidmet, in Rückblenden wird aber nach und nach die komplizierte Familienstruktur aufgeblättert. Kingas Mutter Alissa, nach der Adoption durch NS-Vorzeigemutter Gerda und ihren Mann Gerd „Gerhild“ genannt, war die uneheliche Tochter von Dorotas Großvater Marolf mit dem Dienstmädchen Adele, die diese auf Bestreben seiner Frau ins Lebensbornheim Steinhöring geben musste. Die eheliche Tochter Reni ist Dorotas Mutter. Die Spur von Adele verliert sich noch vor dem Krieg. Reni und ihre Mutter erleben auf ihrer Flucht vor der Roten Armee 1944/45 Entsetzliches. Ulrike Draesner steigert die Intensität von Die Verwandelten mit Fortschreiten des Textes, der in Teil 2 und 3 auf das blutige 20. Jahrhundert fokussiert, Flucht, Vertreibung, Kriegsgewalt direkt thematisiert. Der Übergang geschieht durch sogenannte „Wurmlöcher“. Eingeleitet wird jedes Kapitel durch lyrische Absätze, Gesänge der „gezwungenen Kinder“ bzw. der „gezwungenen Mütter“. Diese Passagen arbeiten mit Auslassungen, Streichungen, erschließen sich manchmal, oft aber auch nicht. Ulrike Draesner macht es ihren Leser:innen nicht unbedingt leicht. Ihr Roman ist sprachlich und inhaltlich fordernd, ein wahres „Dornenheckenlabyrinth“. Man verlässt es nach dem Lesen sicher nicht völlig unverletzt. So intensiv sind manche Abschnitte, so gegenwärtig wird die Vergangenheit. Kriegerische Gewalt, die sich immer wieder gegen Frauen richtet, staatliche Gewalt, männliche Gewalt. „Wir, die Frauen von 1900, wurden in jedem der deutschen REICHE benutzt wie Teig. durch die Kriege hindurch: geknetet, geknechtet, gebraucht.“ Der Text wird immer dunkler, wird nicht linear erzählt, springt, hüpft, wechselt Sie- und Ich-Perspektiven der verschiedenen Protagonistinnen, bindet schlesische und polnische Wendungen ein – furios, aufwühlend, mutig. Sprachlosigkeit als Überlebensstrategie, man versteht das, man staunt über die Resilienz der Frauen, trotz allem. „Wir waren beschädigt, aber es war vorbei, wir hatten überlebt, außen wummerte, innen wimmerte das Herz, jeder Tag wog schwer.“ Sie alle sind Die Verwandelten. Sie ändern notgedrungen und als Rettung ihre Namen, ihre Identitäten, ihre Lebenswelten. Und bewahren Dinge als Zuflucht, als eine Verkörperung von „Zuhause“, wie das Bild des in Breslau geborenen Malers Adolf Menzel „Das Balkonzimmer“. Licht flutet darauf durch ein Fenster hinein. Und das Buch endet, schon im Nachwort, in dem Ulrike Draesner erzählt wie eine Zuhörerin bei einer Lesung ihr die Geschichte von Reni/Walla quasi „geschenkt“ hat, mit einem Satz Sigmund Freuds. „Wenn jemand spricht, wird es hell.“ „Alle `Umstände´ sind akribisch recherchiert. Alle Figuren präzise erfunden. Sie agieren als Mäntel, als Schutzhüllen. Im Laufe des Schreibens wurde mir deutlich, dass ich Fiktion neu verstand: eine Folie, im Nachhinein um verletzte Körper geschlungen, (…)(die) dank ihrer nicht `in sich verstummt´ bleiben müssen.“ Die Verwandelten ist ein großes, ein großartiges, ein vielstimmiges, ungeheuer intensives Buch, mit dem es Ulrike Draesner schafft, das zu oft Verschwiegene schonungslos und doch zart zu erzählen. Sprachlich anspruchsvoll und beeindruckend gelungen, aufwühlend, klug und erhellend. „Das nachhängend Gewaltsame der Gewalt war, dass sie nicht erlaubte, Geschichten zu Ende zu erzählen.“ Wie gut, dass es Schriftsteller:innen wie Ulrike Draesner gibt, denen es gelingt, das zu durchbrechen.

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