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Rezensionen zu
Die Verwandelten

Ulrike Draesner

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Spannend und poetisch erzählt

Von: Bookfeminist

07.01.2024

In „Die Verwandelten” von Ulrike Draesner erzählt die Autorin die Geschichten von Frauen über drei Generationen hinweg, die mit den traumatischen Folgen von Krieg zu kämpfen haben. Der Roman ist komplex konstruiert und ist aus mehreren Erzählperspektiven zusammengesetzt. Die Geschichte bietet einen tiefen Einblick in ein Stück mitteleuropäischer Frauengeschichte, die bis heute nachwirkt. Die Autorin bedient sich dabei einer sehr poetischen, dennoch klaren und reflektierenden Sprache und ist stets nah an den Figuren. Die Hauptfiguren des Romans sind Alissa, die in einem Heim des nationalsozialistischen “Lebensborn” zur Welt kam und von einem stramm nationalsozialistischen Paar adoptiert wurde, und Walla, die in Wrozlaw einen Kiosk betreibt. Beide Frauen sind geprägt von den Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit in Deutschland und Polen. Draesner schreibt über diese durch den Krieg „verwandelten“ Frauen und gibt ihnen so nachträglich eine Stimme und die Möglichkeit ihre Geschichte zu erzählen. Diese beinhaltet neben Flucht, Vertreibung und Gewalt auch einiges an Humor und Mut und beschreibt die Kraft die diese Frauen aufbringen mussten um nicht an den Umständen zu zerbrechen. Der Roman wühlt auf mit seiner bewegenden Geschichte, besticht darüber hinaus aber auch durch die Klugheit und Zärtlichkeit seiner Protagonistinnen. Insgesamt ist “Die Verwandelten” ein großartiger Roman, der die Gewalterfahrungen von Frauen im Krieg sichtbar macht (auch wenn auf explizite Gewaltdarstellungen verzichtet wird) und ihnen so eine Stimme verleiht.

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Es ist ein großes Buch, manche würden es vielleicht als Saga bezeichnen. Mindestens 100 Jahre Familiengeschichte stecken auf den 600 Seiten. Es sind fast ausschließlich die Frauen, um die es geht. Es sind viele von ihnen und man kann sehr schnell den Überblick verlieren, weil Ulrike Draesner viel zwischen Zeiten und Orten hin- und herspringt. Deshalb ein Tipp: ganz hinten im Buch findet ihr einen Stammbaum. Falls es ein Durcheinander im Kopf gibt, könnt ihr also – ausnahmsweise – direkt ans Ende springen und ein wenig Ordnung hineinbringen. In diesem Buch lernt ihr sehr viele Frauen kennen, ich möchte euch die drei, die ich für die wichtigsten halte, gerne kurz vorstellen. Da ist zum einen Adele. Sie wurde 1911 geboren, ein richtiges Landmädchen im heutigen Polen. Ihr großer Wunsch ist es zur See zu fahren. Wenn schon nicht als Matrose, dann wenigstens als Koch. Beides zur damaligen Zeit undenkbar, es gab nicht mal eine weibliche Bezeichnung für Menschen, die zur See fahren. Also wird Adele Köchin im Haushalt eines Theaterschauspielers. Der ist verheiratet, hat eine Tochter und leidet unter Depressionen, die ihn an den Rand der Lebensunfähigkeit bringen. Adele kümmert sich um ihn, kann mit seiner Krankheit umgehen, ist sein Rettungsanker, wird aber auch ausgenutzt und schließlich schwanger. Um einen Skandal zu vermeiden, wird Adele in ein Lebensbornheim im tiefsten Bayern gesteckt. In diesen Heimen konnten ledige Frauen, ihre unehelichen Kinder zur Welt bringen, sofern sie und der Erzeuger den arischen Vorstellungen entsprachen. Anschließend wurden die Kinder von regimetreuen Paaren adoptiert. Adele will ihre Tochter nicht dort lassen und nimmt sie mit zurück in das Haus des Schauspielers. Einige Jahre lang lebt Alissa dort als Familienmitglied. Doch die Arbeit und auch die emotionale Belastung wachsen Adele bald über den Kopf. Inzwischen ist der 2. Weltkrieg in vollem Gange. Eines Tages nimmt die Frau des Schauspielers, selbst verzweifelt, überfordert, vielleicht auch eifersüchtig, Alissa und bringt sie zurück in das Lebensbornheim. Man ändert ihr Geburtsdatum, weil jüngere Kinder eine bessere Vermittlungschance haben und findet ein älteres, kinderloses Ehepaar, das das Mädchen zu sich nimmt. Beide sind Natiionalsozialisten und bringen auch jede Menge persönlichen Ballast mit. Alissa wächst bei ihnen auf, ist aber immer eine Suchende. Sie war etwa fünf Jahre alt als sie von ihrer Mutter getrennt wurde und weiß, dass es eine andere Familie und Kontakte nach Polen gibt. Namen, Ereignisse und Verbindungen verblassen aber über die Jahrzehnte immer mehr. Auch sie bekommt später eine Tochter, die sie alleine aufzieht. Mit Kinga kommen wir in der Gegenwart an. Sie ist Anwältin und lebt mit ihrer adoptierten Tochter in Berlin. Ihre Mutter Alissa ist vor kurzem gestorben, sie versucht in einem neuen Job Fuß zu fassen und hat ein wenig den Halt verloren. Beruflich beschäftigt sie sich mit Erben, Leihmutterschaft und schwierigen Familienkonstellationen und hält auch Vorträge darüber. Bei einem dieser Vorträge wird sie in Hamburg von einer Polin angesprochen. Es gibt eine Verbindung zwischen Dorota und Kinga, die beide aber erst nach und nach verstehen. Ich denke, es ist nicht gespoilert, wenn ich sage, dass Dorotas Mutter die Tochter des Schauspielers ist, mit der Kingas Mutter einige Jahre zusammengelebt hat. Dass beide Halbschwestern sind, wird ihnen erst später klar. Kingas Mutter hatte ohne Wissen Kontakt zur polnischen Familie und sich sogar eine Wohnung in Polen gekauft. Jetzt beginnt langsam die Aufarbeitung der Familiengeschichte und der Versuch, sich einander anzunähern. Und alles Weitere müsst ihr selber lesen. Dieses Buch hat mich wirklich beeindruckt. Die Konstruktion mit vielen Rückblenden und Einschüben ist sehr gut gemacht. Alles, was ihr oben zum Inhalt gelesen habt, ist nur ein kleiner Teil des Ganzen und das Verständnis für die Abläufe (und wer wer ist) entwickelt sich erst langsam, so als ob man ein wunderschön verpacktes Geschenk ganz vorsichtig auspacken möchte. Es ist ein Buch, dem man Zeit und Raum geben muss, kein Text zum Nebenbeilesen. Ich musste mich komplett darauf einlassen, dieses Buch mit in die Bahn oder ins Wartezimmer zu nehmen, hätte nicht funktioniert. Die Handlung ist nicht stringent und man kann schnell verloren gehen und den Faden verlieren. Das Hin- und Herspringen von einer Generation zur nächsten von Bayern nach Polen nach Berlin, macht aber auch einen gewissen Reiz aus. Die ungewöhnliche Sprache hat es verdient, viele Sätze mehrfach zu lesen, damit man überhaupt erfassen kann, wie großartig sie formuliert sind. Um mal ein Beispiel zu nennen: Kinga fährt Zug und hängt dabei ihren Gedanken nach. Dabei denkt sie – wie jeder Mensch – nicht von A nach B, sondern schweift ab, ist ganz woanders, beendet ihre Sätze nicht, stellt Fragen, schiebt weitere Überlegungen ein. In der Form habe ich das wahrscheinlich noch nie gelesen und fand es toll. Es wird aber auch viel geschwiegen in diesem Buch, weil die Worte fehlen für die Heimatlosigkeit, für die Suche nach Dingen und Menschen, von denen man gar nicht weiß, dass sie fehlen. Auch die Kluft zwischen Schlesien und Westdeutschland mach Ulrike Draesner über die Sprache deutlich. Sie verwendet viele polnische Begriffe, aber auch deren deutsche Entsprechung, je nachdem, wer gerade im Zentrum der Handlung steht. Es heißt, wenn etwas günstig ist, zum Beispiel nicht, man bekomme es für „einen Appel und ein Ei“, sondern „für eine Wurst und eine Kopeke“. Insgesamt ein sehr interessantes, sprachlich brillantes, teils auch herausforderndes Buch und mal etwas völlig anderes.

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Ulrike Draesners Werk „Die Verwandelten“ war nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse. In meinen Augen völlig zu Recht. Es ist sprachgewaltig, tiefgreifend, erschütternd und zeichnet ein Bild von Frauen in verschiedenen Epochen. Es ist ein Buch der Gegensätze, zwischen Liebe und Hass, Ausgrenzung und Vereinigung, Freude und Schmerz. Es ist eine Suche nach Identität und die Notwendigkeit der Verwandlung. Es ist ein Brechen des Schweigens. - Thematisch ergründet die Autorin eine Familiengeschichte, erzählt aus der weiblichen Perspektive. Da ist Kinga, die junge Anwältin, die erst nach dem Tod ihrer Mutter Alissa auf die Spur ihrer Familie stößt. Doro, die nach und nach erkennt, dass in der Familie viele Geheimnisse herrschen. Allisa, geboren in einem Lebensbornheim und auf der Suche nach ihren Wurzeln. Walla/Reni die fast ihr Leben lang schweigt über ihre Geschichte. Else und Adele mit denen alles begann. 3 Generationen vom Nationalsozialismus bis in die Jetzt-Zeit. - Der Roman hat mich sowohl emotional, als auch intellektuell gefordert. Die sprachliche Ausarbeitung ist anspruchsvoll und verlangt Konzentration beim Lesen. Wechselnde Schreibstile, je nach erzählender Person, der Einbau von polnischen und schlesischen Worten, teils verwirrender Satzbau, aber auch die Poesie zwischen den Zeilen… Die Anstrengung hat sich gelohnt. Draesner schreibt über die Macht von Männern, die sie über Frauen ausüben, sie schreibt darüber, dass sie sich nehmen, was sie wollen, sie schreibt über die Qualen, die diese Unterdrückung verursacht. Das Kriegsgeschehen, die Flucht, das Leid, welches Frauen ertragen, von sexueller Belästigung und Vergewaltigung bis hin zu körperlicher Gewalt und Ausbeutung, stehen im Fokus. Die Autorin findet hier sehr ausdrucksstarke, klare Worte und ich kann nicht behaupten, dass es Spaß macht dies alles zu lesen. Es macht wütend, fassungslos, erzeugt Mitgefühl und zeugt von einer gewissen Ohnmacht. Nichtsdestotrotz ist es unglaublich wertvoll. Es gibt Frauen eine Stimme und bricht das Schweigen über die Geschehnisse der Kriegs- und Nachkriegszeit. Überdies zeigt sie die Nachwirkungen auf folgende Generationen auf, diese Haltlosigkeit, die daraus resultiert, wenn man seine Wurzeln nicht kennt. Die Lebensborn-Heime werden thematisiert und es wird einmal mehr klar, dass damals unglaublich viel im Argen lag. Es wurden damit „Zuchtanstalten“ für „gute Bürger“ geschaffen, Familien auseinander gerissen, Dokumente gefälscht. Ein Prozedere welches es fast unmöglich machte mehr über seine Herkunft zu erfahren. Auch psychische Erkrankungen spielen eine Rolle. Depressionen und PTBS waren nicht selten, wurden aber natürlich nicht als solche erkannt, geschweige denn behandelt. Nein, es gab Zeiten, als diese Erkrankungen sogar versteckt und von den Angehörigen verschleiert werden mussten, da sonst die Deportation drohte. Man könnte nun den Eindruck bekommen, dass der Roman erdrückend, schwer, hoffnungslos und traurig ist und dies mag zum Teil auch stimmen, aber er ist auch voller Freude an den kleinen Dingen, voller Mut. Er gibt den Frauen die Möglichkeit gehört zu werden und zeugt von einer unglaublichen Stärke. Ja die Handelnden haben unglaublich viel Leid erfahren, aber sie haben überlebt, sie haben sich neu erfunden und irgendwie weitergemacht. Während ich den letzten Satz geschrieben habe, überkommt mich wieder eine tiefe Wut und auch Verzweiflung, da ich einsehen muss, dass es immer noch aktuell ist. Klar herrscht gerade kein Krieg bei uns, wir müssen uns nicht um essen oder ein Dach über dem Kopf sorgen, und sicher ist für Frauen vieles besser geworden und trotzdem gibt es immer noch Frauen, die Überlebende sind, die versuchen müssen sich neu zu erfinden und irgendwie weiter machen. Letztendlich glaube ich, dass der Text uns auch sagen will, dass es immer noch ein Kampf ist, aber Schweigen keine Lösung darstellen kann.

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Kinga, alleinerziehende Anwältin aus Berlin, fährt nach Hamburg, um einen Vortrag über die nationalsozialistischen Lebensbornheime zu halten, jene Heime, die für staatlich geprüften Nachwuchs sorgen und unverheiratete Schwangere an einer Abtreibung hindern sollten. Kingas Interesse hat einen persönlichen Grund, ist doch ihre eigene Mutter in so einem Heim zur Welt gekommen und später von einem ideologisch gefestigten Paar adoptiert worden. Doch nach dem Vortrag wird sie von einer in Hamburg lebenden Polin angesprochen, die ihre Mutter gekannt hatte. Und nicht nur das, Doro entpuppt sich zudem als entfernte Verwandte, denn die leibliche Mutter von Kingas Mutter stammte aus Breslau, jetzt Wroclaw. Die neugefundene Verwandtschaft führt dazu, dass Kinga sich auf familiäre Spurensuche begibt, doch als Leser*innen erfahren wir die Familiengeschichte nicht nur aus ihrer Perspektive, sondern auch aus der der anderen Frauen in der Familie. Ulrike Draesner lotet in ihrem neuen Roman aus, welche Auswirkungen der Krieg auf die Frauen hat und wie man über das sprechen kann, was am besten ungesagt bleibt. Es geht um Grenzverschiebungen und -verletzungen, staatliche und persönliche, sexuelles Ausgeliefertsein und das Schweigen darüber. Auch die eigenen Herkunftserzählungen verschieben sich, denn was ist schon deutsch, was polnisch, wenn die Länder wechseln, ohne dass die Menschen dafür umziehen müssen. Oder wegmüssen, aber im Geiste bleiben und dadurch nirgendwo mehr ankommen. Die Autorin beschreibt, wie sehr sich auch das Ungesagte auf die nachfolgenden Generationen auswirkt, sie erzählt von brüchigen Familien und ungeklärten Verbindungen. Jedem Kapitel ist ein Gedichtfragment vorangestellt, das die Lücken und Streichungen in den Familiengeschichten deutlich macht. Draesner schreibt in einer poetischen Sprache, die genau ist und reflektiert, dabei jedoch nah an den Figuren bleibt. So erschafft sie auf knapp 600 Seiten einen vielstimmigen Blick auf ein Stück mitteleuropäische Frauengeschichte, die bis heute nachwirkt. Mich hat dieser Roman absolut begeistert, er gehört jetzt schon zu meinen Jahreshighlights!

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Die Schriftstellerin Ulrike Draesner beschäftigt sich schon seit langem – autobiografisch oder biografisch inspiriert – mit den Themen Flucht, Vertreibung und transgenerationelle Weitergabe von Traumata, 2014 erschien Sieben Sprünge vom Rand der Welt, 2020 Schwitters, die zusammen mit dem jüngst veröffentlichten Die Verwandelten eine lockere, inhaltlich nicht voneinander abhängende Trilogie ergeben. Das vorangestellte Motto verrät, woher der Titel des Romans stammt. Es sind Ovids Metamorphosen, ein Epos voll sexualisierter Gewalt gegen Frauen und daraus abgeleiteter Machtausübung, und aus diesen die blutige Geschichte von Philomela, derer sich Ulrike Draesner bedient. Philomela, die vom Mann ihrer Schwester begehrt und vergewaltigt wird und der, um die Tat zu vertuschen, von diesem die Zunge herausgeschnitten wird. Das Schweigen, zu dem sie dadurch verurteilt wird, steht sinnbildlich für das Schweigen, dem viele Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, aus den verschiedensten Gründen unterworfen sind. Und, noch allgemeiner, für das Schweigen der Generationen, die im vergangenen Jahrhundert traumatische Gewalterfahrungen gemacht und die sie weitgehend durch Schweigen verdrängt haben: die Kriegskinder. Dass diese Traumata sich auf nachfolgende Generationen quasi „vererben“, sei es durch Genveränderungen oder weitergegebene Erfahrungen oder Verhaltensmuster, hat die wissenschaftliche Forschung mittlerweile bewiesen. „Inzwischen wusste man, dass nichts, was stattgefunden hatte, einfach so wieder verschwand.“ Ulrike Draesner zählt sich als 1962 Geborene zu der in der Psychologie als „Nebelkinder“ bezeichneten Alterskohorte, also der Kriegsenkel, die den Krieg nicht selbst miterlebt haben, deren Eltern durch ihn als Kinder oder Jugendliche aber traumatisiert wurden, diese Traumatisierungen ähnlich wie deren Eltern die Verstrickungen in den Nationalsozialismus und die dadurch aufgeladene Schuld aber selten angesprochen haben. Dieses Verschwiegene und unter der Oberfläche Gärende hat viele dieser Kriegsenkel geprägt. „Wie hört ein Krieg für ein Mädchen auf, das ihn nicht erlebte, bloß groß werden musste in ihm, obwohl er vorbei war – weil jene, die groß waren, wie es hieß, klein geblieben waren, eben durch diesen Krieg?“ Anhand einer kompliziert zusammengesetzten Familie aus Wrocław, dem bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mehrheitlich deutschsprachigen Breslau, erzählt Ulrike Draesner in Die Verwandelten fast einhundert Jahre europäische Geschichte, und zwar aus weiblicher Sicht. Erzählt von Krieg und Gewalt, Schwäche und Stärke der Frauen, Schmerz und Scham, Solidarität und Mutterschaft, Familienbanden und Heimat. „Zuhause ist, wo man aufbricht. Zuhause war am Anfang. Im Lauf des Lebens geht das unter. Aber verliert sich nicht.“ Es beginnt mit der Anwältin Kinga Schücking im heutigen Berlin. Nicht zufällig ist Kinga spezialisiert auf Erbrecht. Bei einem Vortrag, den sie in Hamburg zu erbrechtlichen Fragen bei „Zukunftsformen von Elternschaft“ halten soll und für den sie sich als Tochter einer in einem sogenannten „Lebensbornheim“ der Nationalsozialisten aufgewachsenen, alleinstehenden Mutter und als Adoptivmutter eines Mädchens mit „anderer Hautfarbe“ auch persönlich qualifiziert fühlt, spricht sie eine Frau namens Dorota an. Die beiden Frauen sehen sich frappierend ähnlich und es stellt sich heraus, dass sie den gleichen Großvater besitzen. Eine für Kinga verblüffende Neuigkeit, da sie bisher angenommen hatte, dass der Vater ihrer Mutter ein Vertreter der „nordischen Rasse“ war, wie es im Lebensborn-Projekt Heinrich Himmlers zum „Erhalt der arischen Rasse“ vorgeschrieben war. Die SS-eigenen Heime ermöglichten „rassehygienisch einwandfreien“ unverheirateten Frauen und Mädchen eine anonyme Geburt, um sie von einem Schwangerschaftsabbruch abzuhalten. Die Kinder wurden danach zur Adoption durch parteinahe Ehepaare freigegeben. Der erste Teil von Die Verwandelten ist dem 21. Jahrhundert gewidmet, in Rückblenden wird aber nach und nach die komplizierte Familienstruktur aufgeblättert. Kingas Mutter Alissa, nach der Adoption durch NS-Vorzeigemutter Gerda und ihren Mann Gerd „Gerhild“ genannt, war die uneheliche Tochter von Dorotas Großvater Marolf mit dem Dienstmädchen Adele, die diese auf Bestreben seiner Frau ins Lebensbornheim Steinhöring geben musste. Die eheliche Tochter Reni ist Dorotas Mutter. Die Spur von Adele verliert sich noch vor dem Krieg. Reni und ihre Mutter erleben auf ihrer Flucht vor der Roten Armee 1944/45 Entsetzliches. Ulrike Draesner steigert die Intensität von Die Verwandelten mit Fortschreiten des Textes, der in Teil 2 und 3 auf das blutige 20. Jahrhundert fokussiert, Flucht, Vertreibung, Kriegsgewalt direkt thematisiert. Der Übergang geschieht durch sogenannte „Wurmlöcher“. Eingeleitet wird jedes Kapitel durch lyrische Absätze, Gesänge der „gezwungenen Kinder“ bzw. der „gezwungenen Mütter“. Diese Passagen arbeiten mit Auslassungen, Streichungen, erschließen sich manchmal, oft aber auch nicht. Ulrike Draesner macht es ihren Leser:innen nicht unbedingt leicht. Ihr Roman ist sprachlich und inhaltlich fordernd, ein wahres „Dornenheckenlabyrinth“. Man verlässt es nach dem Lesen sicher nicht völlig unverletzt. So intensiv sind manche Abschnitte, so gegenwärtig wird die Vergangenheit. Kriegerische Gewalt, die sich immer wieder gegen Frauen richtet, staatliche Gewalt, männliche Gewalt. „Wir, die Frauen von 1900, wurden in jedem der deutschen REICHE benutzt wie Teig. durch die Kriege hindurch: geknetet, geknechtet, gebraucht.“ Der Text wird immer dunkler, wird nicht linear erzählt, springt, hüpft, wechselt Sie- und Ich-Perspektiven der verschiedenen Protagonistinnen, bindet schlesische und polnische Wendungen ein – furios, aufwühlend, mutig. Sprachlosigkeit als Überlebensstrategie, man versteht das, man staunt über die Resilienz der Frauen, trotz allem. „Wir waren beschädigt, aber es war vorbei, wir hatten überlebt, außen wummerte, innen wimmerte das Herz, jeder Tag wog schwer.“ Sie alle sind Die Verwandelten. Sie ändern notgedrungen und als Rettung ihre Namen, ihre Identitäten, ihre Lebenswelten. Und bewahren Dinge als Zuflucht, als eine Verkörperung von „Zuhause“, wie das Bild des in Breslau geborenen Malers Adolf Menzel „Das Balkonzimmer“. Licht flutet darauf durch ein Fenster hinein. Und das Buch endet, schon im Nachwort, in dem Ulrike Draesner erzählt wie eine Zuhörerin bei einer Lesung ihr die Geschichte von Reni/Walla quasi „geschenkt“ hat, mit einem Satz Sigmund Freuds. „Wenn jemand spricht, wird es hell.“ „Alle `Umstände´ sind akribisch recherchiert. Alle Figuren präzise erfunden. Sie agieren als Mäntel, als Schutzhüllen. Im Laufe des Schreibens wurde mir deutlich, dass ich Fiktion neu verstand: eine Folie, im Nachhinein um verletzte Körper geschlungen, (…)(die) dank ihrer nicht `in sich verstummt´ bleiben müssen.“ Die Verwandelten ist ein großes, ein großartiges, ein vielstimmiges, ungeheuer intensives Buch, mit dem es Ulrike Draesner schafft, das zu oft Verschwiegene schonungslos und doch zart zu erzählen. Sprachlich anspruchsvoll und beeindruckend gelungen, aufwühlend, klug und erhellend. „Das nachhängend Gewaltsame der Gewalt war, dass sie nicht erlaubte, Geschichten zu Ende zu erzählen.“ Wie gut, dass es Schriftsteller:innen wie Ulrike Draesner gibt, denen es gelingt, das zu durchbrechen.

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