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Rezensionen zu
Lincoln im Bardo

George Saunders

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Ein außerordentlich wagemutiges, aussagekräftiges und literarisches Meisterwerk

Shakespeare und So

Von: Cliff Kilian aus Mainz

07.11.2018

Mein Name ist Cliff Kilian, ich bin Buchhändler in Mainz. Meine Frau und ich betreiben dort die Buchhandlung Shakespeare und So..... Selten hat es in unserer Karriere (seit 25 Jahren) ein so außerordentlich wagemutiges, aussagekräftiges und literarisches Meisterwerk wie „Lincoln im Bardo“ gegeben. Es ist eine Philosophie, eine Vision, ein einfaches und doch die literarischen Grenzen sprengendes Buch. Ich habe vor vielen Jahren Dantes göttliche Komödie gelesen und fand sie außerordentlich. Damals freute ich mich darüber, dass ein Mensch auf so eine Idee kommt, und wie er diese Idee literarisch umsetzt. Es ist ein Meisterwerk. Georg Saunders ist ein ebensolches Meisterwerk gelungen. Und vielleicht geht er über dieses Dantesche sogar noch hinaus. Saunders lässt uns erleben, verzeihen Sie einen pathetischen Nachsatz, dass Mitgefühl, Anteilnahme, Liebe und Respekt dem Menschen Eigen sein können und sollten. Ich bedanke mich bei Ihnen und George Saunders , dass „ich in seinem Pferd sitzen darf um das Buch unter die Leute zu bringen.“

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Meine übliche Herangehensweise an ein Buch besteht darin, mich grob über den Inhalt zu informieren. Dabei lasse ich Klappentexte, Rezensionen etc. außen vor. Ich möchte mich nicht vorab beeinflussen lassen. Allerdings war mein erster Gedanke, als ich den Roman "Lincoln im Bardo" von George Saunders das allererste Mal aufgeschlagen habe: "Ach, du Schande! Hättest du dich mal vorher schlau gemacht. Da hast du dich wohl von dem Prädikat "Man Booker Prize 2017" blenden lassen." Nach den ersten Seiten habe ich dieses Buch gehasst, ein paar Seiten später wollte ich es nicht mehr aus der Hand legen. Und am Ende war ich süchtig danach und habe es in Rekordzeit gelesen. Der erste Eindruck deutet darauf hin, dass dieser Roman eine Aneinanderreihung von Gesprächsfetzen ist. Das ist gewöhnungsbedürftig und nicht leicht zu lesen, zumal diese Gesprächsfetzen von einer Vielzahl unterschiedlicher Personen kommen (irgendwo habe ich die Zahl 160 gelesen), die sich gerade am Anfang weder zuordnen noch auseinanderhalten lassen. Hinzu kommen Auszüge aus Texten von fiktiven und realen Chronisten aus der Zeit von Abraham Lincoln (1809 - 1865). Auf den ersten Blick ist das Buch ein großes chaotisches Durcheinander. Es gibt nur selten Fließtext, bestenfalls erinnert die Textform an ein Drehbuch oder ein Theaterstück. Erstaunlich, dass sich beim Lesen ein Sog entwickelt hat, der mich geschmeidig durch die Handlung gleiten ließ. Und darum geht es in diesem Buch: Nachdem Willie, der 11-jährige Sohn von Abraham Lincoln (16. Präsident der USA), gestorben ist, findet er sich auf dem Friedhof wieder. Sein Zustand scheint eine Übergangsstation zwischen dem Leben und dem, was danach kommt, zu sein ( = Bardo: ein Begriff aus dem tibetischen Buddismus, der einen Bewusstseinszustand zwischen dem Diesseits und dem Jenseits bezeichnet - ganz grob erklärt). Hier trifft er auf unzählige Gestalten, die hier ebenfalls wandeln, die Einen bereits seit Jahren, die Anderen erst seit Kurzem. Alle habe eines gemein: sie sehen sich nicht als "tot" an. Stattdessen sind sie in einer Warteposition, um wieder in ihr altes Leben zurückzukehren oder auf, ihnen nahestehende Menschen zu warten, die ebenfalls irgendwann das Zeitliche segnen werden. Willie unterscheidet sich von den anderen Gestalten. Er ist jung, und er erhält Besuch von seinem Vater. In der Nacht nach der Beerdigung seines Sohnes, kommt Lincoln nochmal allein zur Gruft, in der sein Sohn begraben ist. Voller Trauer und Verzweiflung will er Abschied nehmen. Und das, was anschließend in dieser Nacht geschieht, lässt sich nicht mit Vernunft und gesundem Menschenverstand erklären. Nur soviel: auch Geister haben Gefühle. Abraham Lincoln erleidet diesen tragischen Verlust zu einer Zeit, in der sein Land zweigeteilt ist und einen Bürgerkrieg führt. Er wird in seiner Rolle als Präsident 100%ig gefordert. Doch hier zeichnet sich ein nahezu unlösbarer Konflikt zwischen trauerndem Vater und Staatsoberhaupt ab. Die politische Lage lässt dem Privatmenschen nicht viel Freiraum. Und doch nimmt er sich die Freiheit zu trauern, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Gleichzeitig wird ihm bewusst, welche Auswirkungen der Krieg auf die Bürger seines Landes hat. Mit jedem gefallenen Soldaten gibt es Menschen, welche dieselbe schmerzhafte Trauer erdulden müssen, wie er selbst, durch den Verlust seines Sohnes. Eine Besonderheit dieses Romanes sind die Charaktere, i. d. R. sind dies Tote im Bardo. Sie bilden einen Querschnitt der damaligen (oder auch heutigen?) amerikanischen Gesellschaft. Es sind Arme und Reiche, Weiße und Farbige, Ehrenwerte und Kriminelle, Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, Moralische und Unmoralische... Und jeder hat eine Geschichte zu erzählen - die Geschichte der letzten Jahre seines Lebens sowie die Umstände des persönlichen Ablebens. Dabei kommen Geschichten zu Tage, die traurig sind, skurril, lustig, abstoßend, Mitleid erregend. Die Geschichten beinhalten sehr viel schwarzen Humor. Doch bei aller Skurrilität, die George Saunders seinen Charakteren angedichtet hat, hat man stets den Eindruck, dass er ihnen sehr viel Sympathie und Verständnis entgegenbringt. Er stellt Fehler in den Vordergrund, welche Menschen menschlich machen. Fazit: Ich habe bisher noch nichts Vergleichbares gelesen. George Saunders hat mit "Lincoln im Bardo" eine bizarre Geschichte entworfen. Gesunder Menschenverstand ist hier fehl am Platze. Stattdessen lässt man sich als Leser auf ein eigentlich gruseliges Kammerspiel ein, das die Vorlage für einen Horrorfilm liefern könnte. Belohnt wird man dafür mit einer beeindruckenden Geschichte über einen Vater und seinen Sohn, über einen Staatsmann und seinen Krieg, über Liebe, Verlust, Trauer und Mitgefühl. Eine Geschichte, die unter die Haut geht, die lustig ist, die spannend ist, die schräg ist, die nachdenklich stimmt, und die ich uneingeschränkt empfehlen kann. © Renie

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https://gerhardemmerkunst.wordpress.com/2018/09/05/reingelesen-77-george-saunders-lincoln-im-bardo/

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Lincoln im Bardo (George Saunders) Eine einzige legendäre Nacht war es, die die Grenze zwischen Leben und Tod geweitet hatte. So viele von ihnen hatte man zu schnell, zu schmerzvoll ihrem Leben, dem Damaligen entrissen. In Kranken-Kisten hatte man ihre Leiber gebettet, sie hierher gebracht, in Gruben verscharrt. Ihren Hüllen waren sie zwar entstiegen, bewegten sich wieder frei innerhalb der Grenzen dieser Friedhofsmauern und doch hingen sie fest, in diesem "Zustand". Abschied hatten sie vielfach nicht nehmen können. Die verzweifelten, vor Liebeskummer kranken Selbstmörder, die Geistlichen, die im Kindbett gebliebenen, die geschändeten Frauen, die Unfallopfer, Soldaten. Weiße gegen Schwarze selbst hier und jetzt auch Willie Lincoln. Der kleine, aufgeweckte, liebenswerte Sohn des amtierenden Präsidenten. Angehörige, Freunde waren gekommen. Anfangs. Keiner war geblieben. Bei ihnen, die jeglicher Kommunikationsmöglichkeit beraubt, vergessen, unberührbar geworden waren. Bis heute, bis zu dieser Nacht. Als sich, ohne Laterne und mit zögerndem Schritt, Abraham Lincoln der Gruft näherte in die sie am Nachmittag seinen kleinen Sohn gelegt hatten und der das Tabu brach, welches eine Art Massenschockwelle unter den hier gestrandeten Seelen auslösen sollte: Er rückte den kleinen Sarg aus seiner Nische in der Wand, öffnete den Deckel, nahm seinen Sohn heraus und in die Arme! Was war nur in ihn gefahren in dieser Nacht? Wir Leser erfahren es, aus 'zig Mündern, mit geisterhaften Stimmen und wir beginnen sie zu verstehen. Halten uns auf zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen Licht und Schatten, zwischen dem Diesseits und dem Jenseits ... George Saunders hat in seinem Roman Lincoln im Bardo eine dem Buddhismus ähnliche Zwischenwelt nachempfunden. 2017 wurde er für diesen, seinen "New-York-Times-Bestseller", mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet und ich nehme es jetzt mal vorweg. Dieser Roman ist das ungewöhnlichste, was ich je lesend in meinen Händen gehalten habe. In seinem eigenwillig gestalteten Text läßt Saunders über 160 Stimmen zu Wort kommen. Wie eine Zitat-Sammlung aus historischen Quellen, sind sie teils fiktiv, teils auch echten Personen zuzuordnen. Was für ein Drahtseilakt, sie so aneinander, ineinander zufügen, dass sich ein Sinnzusammenhang ergibt, und was für einer. Einer an dem auch der Übersetzer Frank Heibert für mich einen großen Anteil hat, schließlich liest man ja nicht in der Originalsprache. Großartig hat er die Sätze von Saunders übertragen, dabei dialektische Eigenheiten einzelner Charaktere neu ausgeformt. Auch er ist preisausgezeichnet, u.a. für die Übersetzung von Saunders "Zehnter Dezember". Wie in Zwiesprache mit der Geschichte, erzählt Saunders über Einzel-Schicksale im Schatten des amerikanischen Bürgerkrieg. Abraham Lincoln ist seine Schlüsselfigur, ihn zeichnet er im Spannungsfeld zwischen politischer Person, Mensch und Mann. Insgesamt musste Lincoln den Tod von drei Kindern ertragen. War er Lichtgestalt oder Kriegstreiber, unfähiger Regent, charakterschwach oder eine außergewöhnliche Persönlichkeit? 1860 zum Präsidenten ernannt, ohne große Erfahrung mit politischen Ämtern, galt er als moderter Gegner der Sklaverei, als Pragmat. Ihm schien es wichtiger seinerzeit den Staatenbund aus Nord-und Süd zusammenzuhalten, militärisch durchzugreifen, gegnerische Bünde dieser Union zu zerschlagen war da eher nicht sein Bestreben.1862 im Todesjahr seines Sohnes William erlebte er dann auch im Amt seinen Tiefpunkt. Mit dem Angriff auf das legendäre Ford Sumter begann der Sezessionskrieg in all seiner Grausamkeit. Über Jahre hinaus sollte dieser das Land tief spalten. Lincoln zerrissen von Trauer, hatte plötzlich Land und Familie zusammenzuhalten. Seine Frau am Boden, kam tagelang, wochenlang nach dem Tod des Kindes nicht aus dem Bett, konnte ihm keine Stütze sein. Es hätte ein Horror-Roman werden können, angesichts der zahlreichen Geister, die diesen Friedhof bevölkern, hier festhängen, über ihr Leben berichten, gerne dorthin zurückkehren würden. Sich nicht für tot, sondern für krank halten. Eines haben alle gemeinsam, der Schrecken über ihr eigenes Sterben sitzt ihnen noch in den Knochen. Skurile Figuren sind diese Geister, überzeichnet fast wie in einem Comic. Dramatisch, sanftmütig, schräg, schwarz humorig und auch mutig. Diese Geschichte unglaublich zu nennen, wäre eine schlichte Untertreibung. Überrumpelt, überrascht, verblüfft, bewegt und berührt hat er mich, dieser grandiose Roman. Dieses Feuerwerk an "Geistesblitzen", dieses Kunstwerk aus Wörtern. Die letzten Sätze hängen noch in Luft, als ich das Buch zuschlage und mich traurig fühle, und froh, und wehmütig, und wund am Herzen. Schreien und Lachen könnt ich gleichzeitig. Ich erinnere mich an diejenigen, die ich schon habe loslassen müssen, und mir wird bewußt, das ganz gleich ob wir an die Unsterblichkeit der Seele, ihre Wanderschaft glauben, uns keiner mehr wegnehmen kann, was ein Mensch den wir lieben durften, uns geschenkt hat. Was hat dieser Text nur mit mir gemacht? Ich ringe nach den passenden Worten in dieser meiner Rezension und habe nicht das Gefühl ihm gerecht werden zu können. Ein großes, ein wahres, ein trauriges Buch. Grob und zärtlich, berührend und verstörend zu gleich. Inhaltlich wie strukturell absolut und unfassbar ungewöhnlich. Aus dem Text: "Wie bei feuchten Augen ein Sternenfeld verschwimmt; die wunde Stelle auf der Schulter, wenn ein schwerer Schlitten geschleppt werden muss; der Name der Liebsten, mit behandschuhten Fingern auf eine vereiste Fensterscheibe geschrieben. Einen Schuh zubinden; ein Paket verknoten; ein Mund auf deinem; eine Hand auf deiner; das Ende des Tages; der Anfang des Tages; das Gefühl, dass es immer einen nächsten Tag geben wird. Lebewohl, alldem muss ich jetzt Lebwohl sagen." Viel Raum läßt er für eigene Gedanken und Fragen. Wie wird es sein, wenn wir selbst dereinst abdanken müssen? Welche Spuren werden wir hinterlassen haben? Wird man uns erkennen in den Stiefelabdrücken auf dem Rücken jener, die wir in den Staub getreten haben, oder in dem Lächeln, das sich auf die Gesichter derer stiehlt, die an uns zurück denken?

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Der Bürgerkrieg tobt und Präsident Lincoln muss sich als Führer des Staates beweisen, als sein Sohn Willie verstirbt. Seine Frau ist gebrochen und auch Lincoln kann den Tod nicht schwer akzeptieren. Auf dem Friedhof will er sich von seinem Sohn alleine verabschieden. Doch was dort um ich herum tobt, ist ein aberwitziger Zirkus, an die Grenze des Erzählbaren getrieben. George Saunders‘ Roman „Lincoln im Bardo“ beschreibt eine Geschichte von Abschied, Trauer und Liebe auf so eindringliche Art, dass es völlig gefangen nimmt. Dabei verwirrt der Autor die Leser zunächst vollends, denn seine Form ist keineswegs die klassische Romanform. Kein fester Erzähler leitet uns die Geschichte, niemand der Wahrheit und Vision für uns trennt und uns die Figuren näher bringt. Im Gegenteil, jeder kommt völlig ungefiltert zu Wort, auch die historischen Umstände werden durch kurze Zitate von Zeitzeugen dargestellt, die in ihrer Widersprüchlichkeit vor allem deutlich machen, dass es kaum Klarheit geben kann. Der Friedhof ist eine Art Zwischenreich, in der die Toten sich für Kranke halten, die sich ans Leben klammern, halb lustig, halb tragisch schweben sie über den Friedhof und klammern sich an einen Zustand, der sie nicht glücklich macht, ihnen aber doch Hoffnung zu geben scheint. Auch wenn es durch Stil zu Beginn etwas schwierig zu lesen ist und man etwas Zeit braucht, um die Handlung zu verstehen und die verschiedenen Figuren kennen zu lernen, hat Saunders einen fesselnden Roman geschrieben, der tragisch und komisch zugleich ist, einen beim Lesen berührt und mitreißt. Sowohl Form als auch Inhalt sind beeindruckend und fügen sich perfekt ineinander, ein meisterhaftes Werk, das mit den Erwartungen der Leser spielt und sie gleichzeitig begeistern kann- ein Buch, das man unbedingt gelesen haben sollte.

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Im Bardo

Von: LiteraturReich

20.06.2018

Welch ein aberwitziges, wildes, zärtliches, berührendes Buch! Mit seinem ersten Roman hat der in den USA fast Kultstatus innehabende Autor von Kurzgeschichten und Essays, George Sauders, ein absolut ungewöhnliches und kühnes Werk geschaffen, für das er 2017 sogleich den renommierten Man Booker Prize erhielt. Es ist ein Roman ohne Erzähler. Ganz gleich ob 150 oder 166 Personen (die mitzählenden Kritiker sind sich nicht ganz einig und ich habe wieder ganz anders gezählt), ihre Zahl ist schier unüberschaubar. Und ein Großteil von ihnen ist bereits zum Zeitpunkt der Handlung tot. Eine auf einem viktorianischen Friedhof angesiedelte Spukgeschichte, die das Leben und die Liebe feiert. Fantasy, die mit hunderten von historischen Quellen arbeitet, viele davon belegbar, andere kühn ausgedacht. 108 Kapitel, 450 Seiten über eine einzige Nacht. Ein historischer Roman, dem es recht wenig um die Historie geht. Und ein großes Buch über die Trauer, das manchmal schreiend komisch und herrlich albern ist. Viele Dinge, die man über „Lincoln im Bardo“ sagen könnte, widersprechen sich und klingen sogar wenig zum Lesen animierend. Und doch ist es eines der großartigsten Bücher, das ich seit langem gelesen habe. Es ist eine kalte Februarnacht im ersten Jahr des Amerikanischen Bürgerkriegs 1862. Wir begegnen auf dem Oak Hill Cemetery in Georgetown, Washington, D.C., einem gramgebeugten, von Zweifeln geplagten Abraham Lincoln. Der 16. Präsident der Vereinigten Staaten stand am Beginn des blutigen Sezessionskrieges. Dieser wurde ausgelöst durch die Abspaltung von sieben, später elf sklavenhaltenden Südstaaten aus der Union nach der Wahl des erklärten Sklavereigegners Lincoln. Unzählige Quellen, Memoiren, Briefe, Biographien und wissenschaftliche Werke scheint es zu Abraham Lincoln, seiner Regierungszeit, aber auch seinem Privatleben zu geben. Es ist interessant, zu sehen, wie umstritten dieser mittlerweile als der erfolgreichste und beste Präsident aller Zeiten verehrte, neben Washington, Jefferson und Roosevelt am Mount Rushmore in Stein verewigte Politiker damals war. Am 20. Februar traf ihn ein ganz persönlicher Schicksalsschlag. Sein elfjähriger Sohn Willie starb an Typhus. Es war bereits das zweite Kind, das er verlor und wohl ein besonders geliebtes. Am Tage der Beerdigung kehrt Lincoln noch zweimal zurück ans Carroll Mausoleum, in dem Willie zur Ruhe gebettet wurde, um diesen noch einmal im Arm zu halten. Diese Begebenheit ist historisch belegt und bildet den Ausgangspunkt für George Sauders Roman. Allerdings ist Abraham Lincoln nicht der Hauptprotagonist, obwohl er neben dem Friedhofwärter und einer alten Nachbarin die einzige lebende Person ist. Noch nicht einmal dem kleinen verstorbenen Willie fällt diese Rolle zu. Aus dem in die Hunderte gehenden Stimmenchor der Verstorbenen, den der Autor entfaltet, sind es drei Männer, die besonders herausstechen, denen neben den wenigen Zeilen, die den anderen jeweils zukommen, auch längere Passagen gewidmet sind (die längste umfasst allerdings auch nur 14 Seiten). Der alte Reverend Everly Thomas, zeitlebens ein rechtschaffener, anständiger Mann der Kirche, der friedlich sterben durfte, steht neben zwei Männern, die aus der „Blüte ihrer Jahre“ herausgerissen wurden. Hans Vollman stand gerade davor, die Ehe mit seiner blutjungen Frau zu vollziehen, als ihn ein Deckenbalken erschlug. Hier im „Bardo“, jenem im tibetanischen Buddhismus bekannten Zwischenzustand zwischen einem Leben und dem nächsten, einem neuen irdischen Leidenszyklus oder dem erlösenden Nirvana, auf einer der christlichen Anschauungsweise angepassten Lesart zwischen dem Tod und dem Einzug in den Himmel (bzw. die Hölle), ist er nun dazu verurteilt, mit einer Dauererektion herumzu“flitzschweben“. „Flitzschweben“ - eine der herrlichen Wortneuschöpfungen für die Fortbewegung in diesem Zwischenzustand, die sich George Saunders, bzw. sein genialer Übersetzer Frank Heibert, ausgedacht hat. Roger Bevins wiederum hat sich aus enttäuschter Liebe zu einem anderen Mann das Leben genommen, dies aber noch beim Sterben bitter bereut. Deshalb treibt ihn nun eine enorme Lebensgier. Er ist unterwegs mit ganzen Trauben an Augen, Nasen, Ohren, um seine Umwelt regelrecht aufzusaugen. Gemein ist diesen drei, dass sie, wie alle hier im Bardo, noch nicht wirklich abgeschlossen haben mit ihrem Leben. Irgendetwas hält sie noch zurück, sei es Rache oder Liebe, Angst, Enttäuschung oder Reue. Sie klammern sich an das Vergangene, akzeptieren ihren Tod nicht, leugnen ihn. Sie warten in ihren „Krankenkisten“ verzweifelt darauf, wieder zurückkehren zu dürfen. Gestorbenen Kindern bleibt diese Zerrissenheit meist erspart. Ihr Abschied vom Leben gelingt in der Regel leichter. Umso verwunderlicher, dass sich der kleine Willie Lincoln zu ihnen gesellt. Dabei ist er der einzige Hellsichtige. „Wir sind tot, Leute. Tot.“ Aber auch Willie kann nicht Abschied nehmen, nicht mit einem effektvollen Klang in die „Materienlichtblüte“ verschwinden. Die Liebe seines Vaters hält ihn zurück, lässt ihn lange nicht gehen. Lincoln sieht im Tod seines geliebten Kinds nicht nur den persönlichen Verlust, sondern auch den so vieler anderer „Jungen“ im blutigen Krieg, den die Vereinigten Staaten gegeneinander führen und für den er verantwortlich zeichnet. Mit dem toten Willie in den Armen trauert, zweifelt und grübelt er. Wir erfahren dies nur durch die drei Toten, die Willie den Übergang nach „Drüben“ erleichtern wollen, die in den Trauernden hineinfahren, wie dies nur Geister können. Zugleich strömen von überall her die noch verharrenden Verstorbenen, überwältigt davon, dass ein Lebender mit so viel Liebe einem der ihren anhängt. Lincolns Liebe und endliches Loslassen wird auch so manchen von ihnen den Abschied erleichtern. In den gewaltigen Stimmenchor der Toten mischt George Saunders eine genauso beeindruckende Anzahl historischer Quellen. Manche kann man nachprüfen, sie sind historisch belegt wie die der farbigen Schneiderin von Mary Lincoln Elizabeth Keckley und vieler anderer Zeitzeugen, andere sind wahrscheinlich von Saunders geschickt erfunden worden. Das Buch gibt darüber keine Auskunft. Sie ergeben zusammen ein breites Gesellschaftspanorama, mischen die unterschiedlichsten Stimmen, Tonlagen und Ansichten und thematisieren in ihrer teilweise eklatanten Widersprüchlichkeit nicht nur die Unzuverlässigkeit jeglicher Geschichtsschreibung, sondern tragen auch nicht unerheblich zur Heiterkeit von „Lincoln im Bardo“ bei. Denn das darf auch nicht vergessen werden: Das Buch ist ungeheuer unterhaltsam, ironisch, witzig. Hat man sich erst einmal in den sehr ungewöhnlichen Schreibstil der kurzen bis kürzesten, sich ständig in der Erzählperspektive abwechselnden Passagen eingelesen, dann macht dieses Buch über die Trauer eines Präsidenten und die von unzähligen Verstorbenen über ihr verpasstes Lebensglück auch ungemein Spaß. Und lässt staunen. Nicht nur über die Kühnheit seines Verfassers, sondern auch über die enorme Empathie, die darin zum Ausdruck kommt. Empathie des Autors mit dem in seinem Schmerz versunkenen, zaudernden Abraham Lincoln, aber auch mit all den im Zwischenreich herumirrenden Verstorbenen, denen Enttäuschungen im Leben den Abschied im Moment des Sterbens erschweren. Aber auch Empathie in der Figur des Präsidenten selbst, der im Angesicht seiner eigenen Trauer an die Trauer so vieler in seinem Land denkt, die im Bürgerkrieg geliebte Menschen verloren haben. Am Ende nimmt Abraham Lincoln unbewusst die Seele eines Schwarzen mit, der in ihn gedrungen ist. „Und plötzlich wollte ich, dass er mich kennenlernte. Mein Leben. Uns kennenlernte. Unsere Art. (…) Dieses Ereignis hatte ihn offenbar nicht unberührt gelassen. Überhaupt nicht. Es hatte ihn traurig gemacht. Noch trauriger. Das hatten wir geschafft, wir alle, weiß wie schwarz, hatten ihn trauriger gemacht mit unserer Traurigkeit. (…) versucht etwas für uns zu tun, damit wir etwas für uns selbst tun können. Lasst uns los, Sir, lasst uns ran, lasst uns zeigen, was wir können.“ Die endgültige Abschaffung der Sklaverei im durch den 13. Zusatzartikel zur Verfassung im Dezember 1868 wird Abraham Lincoln nicht mehr erleben. Drei Jahre nach Willies Tod wird er ermordet. Weitere hundert Jahre werden vergehen, bis der schwarzen Bevölkerung uneingeschränkte Bürgerrechte zugestanden werden. Und heute sind die USA wieder so gespalten wie lange nicht mehr. An den großen Wahrer der Union, den Anführer der offiziellen „Rankingliste“ amerikanischer Präsidenten, zu erinnern, dessen Empathie mit den Menschen zu thematisieren, ist genau der richtige Zeitpunkt angesichts eines Präsidenten, der nicht nur auf der erwähnten Liste den letzten Platz einnimmt, sondern auch gerade Empathie sichtlich vermissen lässt. Und so könnte man „Lincoln im Bardo“ tatsächlich auch als Statement zur aktuellen Lage der Vereinigten Staaten lesen.

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Gibt es ein Leben nach dem Tod? Und wenn ja – wie sieht es aus? George Saunders versucht sich in Lincoln im Bardo an einer Antwort. Die Art und Weise, wie er dies tut, ist sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Form mehr als außergewöhnlich. Die Grundhandlung von Lincoln im Bardo ist schnell umrissen. Willie Lincoln, der 11-jährige Sohn von Präsident Abraham Lincoln, ist verstorben. Der Vater trauert um seinen Sohn und zieht sich mehrmals in die Familiengruft zurück, wo sein Sohn aufgebahrt ist. Bei diesen Besuchen verbinden sich Diesseits und Jenseits – oder wie es in der Lehre des Yogas heißt: das Bardo (tibetanisch für Zwischenzustand) wird zum zentralen Handlungsort. In diesem verharren der amerikanische Präsident und sein Sohn – und mit ihm eine Vielzahl an weiteren Seelen, irgendwo in diesem nebulösen Reich, das wir Jenseits nennen. Saunders braucht nicht viele Seiten, um den Leser erstmals stutzen und staunen zu lassen (sein Übersetzer Frank Heibert spricht hier auch vom Saunder’schen wtf-Moment). Denn anstelle eines gewöhnlichen Erzählers und einer linearen Handlung ist Lincoln im Bardo ganz anders. Saunders Buch ist ein polyphoner Chor des Jenseits und der Augenzeugen. In teils nur wenigen Wortfetzen erzählen abwechselnd Zeitzeugen Lincolns und Bardo-Bewohner von den Geschehnissen nach dem Tod des Jungen. Der Leser muss sich aus diesen Dialogen und den verschiedenen Sprecher*innen die Handlung selbst zusammenreimen und interpretieren. Das ist herausfordernd, manchmal anstrengend, aber eben auch sehr originell und innovativ. Denn Saunders gelingt es, losgelöst vom Text, die gängigen Vorstellungen des Jenseits zu hinterfragen. Wie ist das Sterben? Und gibt es Regeln, wie das Leben nach dem Tod funktioniert? Lincoln im Bardo ist da funkensprühend kreativ – wohl auch einer der Gründe, warum das Buch letztes Jahr mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde. Dieses Buch könnte man sich ebenso gut als Hörspiel-Adaption oder auf einer Bühne vorstellen, so ist es inszeniert und geschrieben. Gerade in den kommentierenden zentralen drei Gestalten im Bardo glaubt man sich des Öfteren in einem Shakespeare-Stück, so vielfältig ist auch die Sprache und die Figurenzeichnung. Dass dies im Deutschen so gut funktioniert, dafür zeichnet sich Frank Heibert verantwortlich. Dieser übertrug dieses herausfordernde Werk wunderbar eigenständig ins Deutsche und verschaffte allen Sprechenden eine eigene Sprache und darüber hinaus einen eigenen Charakter. Man kann vor seiner Übersetzerleistung nur den Hut ziehen. In diesem Buch zeigt sich einmal mehr, wie hervorragend sich Dichtung und Übertragung vereinen. Ein außergewöhnliches, ein forderndes Buch, das unser Bild vom Jenseits um eine lesenswerte Facette bereichert!

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(Bardo?) Im buddhistischen Glauben ist das Bardo eine Art Zwischenstation im Samsara, dem immerwährenden Zyklus des Seins, also der Bereich zwischen Leben und Wiedergeburt. (Hä?) So wie ein Gate im Flughafen, wenn du das Land offiziell schon verlassen hat, aber noch auf den Flieger wartest. (Achso!) In ebensolches Bardo verschlägt es den kleinen Willie Lincoln, Sohn des Präsidenten, nachdem er im Februar 1862 elendig an Typhus stirbt. Das Bardo, das er betritt, ist eine Schattenversion des Friedhofs, auf dem er bestattet ist. Dort freundet er sich mit den beiden liebenswürdigen Chaoten Hans Vollman und Roger Bevins III an, und mit Reverend Everly Thomas, einem Geistlichen, der, mit einem dunklen Geheimnis belastet, das Bardo nicht verlassen kann. Abraham Lincoln indes geht an der Trauer um seinen Goldjungen fast zu Grunde und es ist fraglich, ob er die Geschicke seines Landes in diesen schweren Zeiten zum Wohle aller weiterhin lenken kann. Ein paar Tage nach der Beerdigung schleicht er sich auf den Friedhof und öffnet Gruft und Grab, um seinem Sohn ein letztes Mal Lebwohl zu sagen. Willie beobachtet ihn dabei, dringt als Geist in seinen Vater ein und spürt dessen Liebe und Trauer. Von diesen Emotionen überwältigt, ist sich Willie sicher: Sein Vater wird ihn aus diesem Zwielicht befreien, er wird zurückkommen und ihn holen. Nun verlangen die Regeln des Bardo, dass man sich möglichst schnell zur Wiedergeburt bereit mache – doch Willie weigert sich und es entbrennt ein Kampf der Geister um seine Seele. George Saunders (*1958) geht in seinem ersten Roman stilistisch – wie von seinen Kurzgeschichten gewohnt – ganz eigene Wege. In über hundert zum Teil sehr kurzen Kapiteln lässt er wie in einem Theaterstück unzählige Figuren sprechen, die in ihrem jeweiligen Duktus das Geschehen kommentieren. Heraus kommt ein kollektives Durcheinander, ein gegenseitiges Dazwischengequatsche, das gekonnt den Spagat zwischen Tragödie und Komödie schafft und irgendwo zwischen Shakespeare und Monty Python landet. Federführend sind die Stimmen von Vollman – mit dem Riesenpenis – und Bevins – mit den hundert Händen –, über die wir Leser auch mehr erfahren als über die meisten anderen Geister, wo sie herkommen und wer sie waren. Interessanterweise ist die einzige Figur, die überhaupt nicht zu Wort kommt – nur indirekt über die Berichte anderer –, Präsident Lincoln, womit auch klar wäre, wer hier der eigentliche Titelheld ist. Zwischen die Geisterstimmen eingewebt sind dutzende Ausschnitte aus Büchern, Chroniken und Briefen von Zeitzeugen, die Lincolns Präsidentschaft analysieren und kommentieren. Wie geht er mit dem Verlust seinen Sohnes um? Was hat das für Auswirkungen auf die Entscheidungen, die gefällt werden müssen, gerade in Kriegszeiten? Ich habe stichprobenartig ein paar der Verfasser dieser Ausschnitte im Netz gesucht und bin fündig geworden, also gehe ich davon aus, dass diese Berichte historisch belegt sind. Die Bardo-Geschichte in diese Wortmeldungen einzubetten – ein äußerst gelungener Schachzug! Auch die Übersetzung ist großartig gelungen. Frank Heibert, den ich spätestens seit Queneaus STILÜBUNGEN und Faulkners SCHALL UND WAHN zu den Größten seiner Zunft zähle, hat hier wieder ganze Arbeit geleistet. Diese unzähligen Stimmen mit ihren unterschiedlichen Eigenschaften stilecht ins Deutsche zu übertragen – inklusive dutzender Wortneuschöpfungen –, das ist eine Leistung, die verehrt werden muss. LINCOLN IM BARDO, Gewinner des Man Booker Prize 2017, hat mich aus dem Stand umgehauen. Ich war erschlagen von der Wucht der eigentümlichen Prosa, an die ich mich zugegebenermaßen erst gewöhnen musste, die mich dann aber mit einem lächelnden und einem tränenden Auge in Windeseile durch die Seiten trug. (450 Seiten in fünf Tagen? Das ist für mich Rekordleistung! – Allerdings steht durch die vielen Stimmwechsel auch oft nicht so viel auf den Seiten.) Und noch etwas: Ich bin überhaupt nicht religiös veranlagt – Religion liegt mir so fern wie … watweißich … Häkeln? – aber wenn ein Roman es schafft, dass ich denke: So könnte ich mir das Nachleben auch vorstellen – Hut ab! Für mich ganz klar eines der besten Bücher des Jahres und definitiv einen Re-Read wert. Leseempfehlung für alle, die sich trauen, ihre gewohnten Lesegewohnheiten über Bord zu werfen und neue Pfade zu erkunden … und weder Shakespeare noch Monty Python abgeneigt sind.

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