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Rezension zu
Lincoln im Bardo

Im Bardo

Von: LiteraturReich
20.06.2018

Welch ein aberwitziges, wildes, zärtliches, berührendes Buch! Mit seinem ersten Roman hat der in den USA fast Kultstatus innehabende Autor von Kurzgeschichten und Essays, George Sauders, ein absolut ungewöhnliches und kühnes Werk geschaffen, für das er 2017 sogleich den renommierten Man Booker Prize erhielt. Es ist ein Roman ohne Erzähler. Ganz gleich ob 150 oder 166 Personen (die mitzählenden Kritiker sind sich nicht ganz einig und ich habe wieder ganz anders gezählt), ihre Zahl ist schier unüberschaubar. Und ein Großteil von ihnen ist bereits zum Zeitpunkt der Handlung tot. Eine auf einem viktorianischen Friedhof angesiedelte Spukgeschichte, die das Leben und die Liebe feiert. Fantasy, die mit hunderten von historischen Quellen arbeitet, viele davon belegbar, andere kühn ausgedacht. 108 Kapitel, 450 Seiten über eine einzige Nacht. Ein historischer Roman, dem es recht wenig um die Historie geht. Und ein großes Buch über die Trauer, das manchmal schreiend komisch und herrlich albern ist. Viele Dinge, die man über „Lincoln im Bardo“ sagen könnte, widersprechen sich und klingen sogar wenig zum Lesen animierend. Und doch ist es eines der großartigsten Bücher, das ich seit langem gelesen habe. Es ist eine kalte Februarnacht im ersten Jahr des Amerikanischen Bürgerkriegs 1862. Wir begegnen auf dem Oak Hill Cemetery in Georgetown, Washington, D.C., einem gramgebeugten, von Zweifeln geplagten Abraham Lincoln. Der 16. Präsident der Vereinigten Staaten stand am Beginn des blutigen Sezessionskrieges. Dieser wurde ausgelöst durch die Abspaltung von sieben, später elf sklavenhaltenden Südstaaten aus der Union nach der Wahl des erklärten Sklavereigegners Lincoln. Unzählige Quellen, Memoiren, Briefe, Biographien und wissenschaftliche Werke scheint es zu Abraham Lincoln, seiner Regierungszeit, aber auch seinem Privatleben zu geben. Es ist interessant, zu sehen, wie umstritten dieser mittlerweile als der erfolgreichste und beste Präsident aller Zeiten verehrte, neben Washington, Jefferson und Roosevelt am Mount Rushmore in Stein verewigte Politiker damals war. Am 20. Februar traf ihn ein ganz persönlicher Schicksalsschlag. Sein elfjähriger Sohn Willie starb an Typhus. Es war bereits das zweite Kind, das er verlor und wohl ein besonders geliebtes. Am Tage der Beerdigung kehrt Lincoln noch zweimal zurück ans Carroll Mausoleum, in dem Willie zur Ruhe gebettet wurde, um diesen noch einmal im Arm zu halten. Diese Begebenheit ist historisch belegt und bildet den Ausgangspunkt für George Sauders Roman. Allerdings ist Abraham Lincoln nicht der Hauptprotagonist, obwohl er neben dem Friedhofwärter und einer alten Nachbarin die einzige lebende Person ist. Noch nicht einmal dem kleinen verstorbenen Willie fällt diese Rolle zu. Aus dem in die Hunderte gehenden Stimmenchor der Verstorbenen, den der Autor entfaltet, sind es drei Männer, die besonders herausstechen, denen neben den wenigen Zeilen, die den anderen jeweils zukommen, auch längere Passagen gewidmet sind (die längste umfasst allerdings auch nur 14 Seiten). Der alte Reverend Everly Thomas, zeitlebens ein rechtschaffener, anständiger Mann der Kirche, der friedlich sterben durfte, steht neben zwei Männern, die aus der „Blüte ihrer Jahre“ herausgerissen wurden. Hans Vollman stand gerade davor, die Ehe mit seiner blutjungen Frau zu vollziehen, als ihn ein Deckenbalken erschlug. Hier im „Bardo“, jenem im tibetanischen Buddhismus bekannten Zwischenzustand zwischen einem Leben und dem nächsten, einem neuen irdischen Leidenszyklus oder dem erlösenden Nirvana, auf einer der christlichen Anschauungsweise angepassten Lesart zwischen dem Tod und dem Einzug in den Himmel (bzw. die Hölle), ist er nun dazu verurteilt, mit einer Dauererektion herumzu“flitzschweben“. „Flitzschweben“ - eine der herrlichen Wortneuschöpfungen für die Fortbewegung in diesem Zwischenzustand, die sich George Saunders, bzw. sein genialer Übersetzer Frank Heibert, ausgedacht hat. Roger Bevins wiederum hat sich aus enttäuschter Liebe zu einem anderen Mann das Leben genommen, dies aber noch beim Sterben bitter bereut. Deshalb treibt ihn nun eine enorme Lebensgier. Er ist unterwegs mit ganzen Trauben an Augen, Nasen, Ohren, um seine Umwelt regelrecht aufzusaugen. Gemein ist diesen drei, dass sie, wie alle hier im Bardo, noch nicht wirklich abgeschlossen haben mit ihrem Leben. Irgendetwas hält sie noch zurück, sei es Rache oder Liebe, Angst, Enttäuschung oder Reue. Sie klammern sich an das Vergangene, akzeptieren ihren Tod nicht, leugnen ihn. Sie warten in ihren „Krankenkisten“ verzweifelt darauf, wieder zurückkehren zu dürfen. Gestorbenen Kindern bleibt diese Zerrissenheit meist erspart. Ihr Abschied vom Leben gelingt in der Regel leichter. Umso verwunderlicher, dass sich der kleine Willie Lincoln zu ihnen gesellt. Dabei ist er der einzige Hellsichtige. „Wir sind tot, Leute. Tot.“ Aber auch Willie kann nicht Abschied nehmen, nicht mit einem effektvollen Klang in die „Materienlichtblüte“ verschwinden. Die Liebe seines Vaters hält ihn zurück, lässt ihn lange nicht gehen. Lincoln sieht im Tod seines geliebten Kinds nicht nur den persönlichen Verlust, sondern auch den so vieler anderer „Jungen“ im blutigen Krieg, den die Vereinigten Staaten gegeneinander führen und für den er verantwortlich zeichnet. Mit dem toten Willie in den Armen trauert, zweifelt und grübelt er. Wir erfahren dies nur durch die drei Toten, die Willie den Übergang nach „Drüben“ erleichtern wollen, die in den Trauernden hineinfahren, wie dies nur Geister können. Zugleich strömen von überall her die noch verharrenden Verstorbenen, überwältigt davon, dass ein Lebender mit so viel Liebe einem der ihren anhängt. Lincolns Liebe und endliches Loslassen wird auch so manchen von ihnen den Abschied erleichtern. In den gewaltigen Stimmenchor der Toten mischt George Saunders eine genauso beeindruckende Anzahl historischer Quellen. Manche kann man nachprüfen, sie sind historisch belegt wie die der farbigen Schneiderin von Mary Lincoln Elizabeth Keckley und vieler anderer Zeitzeugen, andere sind wahrscheinlich von Saunders geschickt erfunden worden. Das Buch gibt darüber keine Auskunft. Sie ergeben zusammen ein breites Gesellschaftspanorama, mischen die unterschiedlichsten Stimmen, Tonlagen und Ansichten und thematisieren in ihrer teilweise eklatanten Widersprüchlichkeit nicht nur die Unzuverlässigkeit jeglicher Geschichtsschreibung, sondern tragen auch nicht unerheblich zur Heiterkeit von „Lincoln im Bardo“ bei. Denn das darf auch nicht vergessen werden: Das Buch ist ungeheuer unterhaltsam, ironisch, witzig. Hat man sich erst einmal in den sehr ungewöhnlichen Schreibstil der kurzen bis kürzesten, sich ständig in der Erzählperspektive abwechselnden Passagen eingelesen, dann macht dieses Buch über die Trauer eines Präsidenten und die von unzähligen Verstorbenen über ihr verpasstes Lebensglück auch ungemein Spaß. Und lässt staunen. Nicht nur über die Kühnheit seines Verfassers, sondern auch über die enorme Empathie, die darin zum Ausdruck kommt. Empathie des Autors mit dem in seinem Schmerz versunkenen, zaudernden Abraham Lincoln, aber auch mit all den im Zwischenreich herumirrenden Verstorbenen, denen Enttäuschungen im Leben den Abschied im Moment des Sterbens erschweren. Aber auch Empathie in der Figur des Präsidenten selbst, der im Angesicht seiner eigenen Trauer an die Trauer so vieler in seinem Land denkt, die im Bürgerkrieg geliebte Menschen verloren haben. Am Ende nimmt Abraham Lincoln unbewusst die Seele eines Schwarzen mit, der in ihn gedrungen ist. „Und plötzlich wollte ich, dass er mich kennenlernte. Mein Leben. Uns kennenlernte. Unsere Art. (…) Dieses Ereignis hatte ihn offenbar nicht unberührt gelassen. Überhaupt nicht. Es hatte ihn traurig gemacht. Noch trauriger. Das hatten wir geschafft, wir alle, weiß wie schwarz, hatten ihn trauriger gemacht mit unserer Traurigkeit. (…) versucht etwas für uns zu tun, damit wir etwas für uns selbst tun können. Lasst uns los, Sir, lasst uns ran, lasst uns zeigen, was wir können.“ Die endgültige Abschaffung der Sklaverei im durch den 13. Zusatzartikel zur Verfassung im Dezember 1868 wird Abraham Lincoln nicht mehr erleben. Drei Jahre nach Willies Tod wird er ermordet. Weitere hundert Jahre werden vergehen, bis der schwarzen Bevölkerung uneingeschränkte Bürgerrechte zugestanden werden. Und heute sind die USA wieder so gespalten wie lange nicht mehr. An den großen Wahrer der Union, den Anführer der offiziellen „Rankingliste“ amerikanischer Präsidenten, zu erinnern, dessen Empathie mit den Menschen zu thematisieren, ist genau der richtige Zeitpunkt angesichts eines Präsidenten, der nicht nur auf der erwähnten Liste den letzten Platz einnimmt, sondern auch gerade Empathie sichtlich vermissen lässt. Und so könnte man „Lincoln im Bardo“ tatsächlich auch als Statement zur aktuellen Lage der Vereinigten Staaten lesen.

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