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Rezension zu
Schaut, wie wir tanzen

Zweiter Teil der autobiografischen Familienbiografie

Von: Literaturreich
28.12.2022

Schaut wie wir tanzen ist der zweite Teil einer autobiografischen Trilogie, in der die französische Bestsellerautorin Leïla Slimani angelehnt an ihre eigene marokkanisch-französische Familie einen großen Bogen von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart schlägt. Anders als in ihren frühen, eher knappen, lakonischen Romanen, erzählt sie hier eher konventionell, auktorial und episch. Das ist aber auf seine Weise ebenso mitreißend und spannend. Im ersten Teil der Trilogie, Das Land der Anderen, dreht sich das Erzählte hauptsächlich um die Großeltern, die Elsässerin Mathilde und den im französischen Kriegsdienst stehende Marokkaner Amine Belhaj, die sich in Frankreich kennenlernen, verlieben und heiraten. Was für die junge, lebenslustige Frau als großes Abenteuer beginnt, nämlich mit ihrem Mann nach Marokko zu gehen, um dort eine Farm zu führen, zeigt sich bald als schwieriges Unterfangen. Sind die Mentalitäten doch so verschieden, dass sie zur Belastung der Ehe werden, muss sich Mathilde doch immer wieder gegen die patriarchalen Strukturen durchsetzen. Aber auch wenn Amine seine Frau bald betrügt, oft nicht versteht und ihr so manche Hindernisse in den Weg gestellt werden - die Liebe trägt. Die Beiden bekommen zwei Kinder, die aufgeweckte Aïcha und den verwöhnten Selim, die nun im zweiten Teil Schaut wie wir tanzen von Leïla Slimani in den Mittelpunkt gerückt werden. Das Buch beginnt 1968, dem schon legendären Jahr des Aufbruchs. Nicht nur in den europäischen Metropolen streben die jungen Menschen nach mehr Freiheit, weniger Konventionen, mehr Mitbestimmung, konsumieren sie Drogen und suchen neue Formen des Zusammenlebens. Während sich vor allem die marokkanische Elite diesem neuen Zeitgeist hingibt, Feste feiert, Alkohol trinkt, sich europäisch kleidet und ihren Wohlstand zur Schau stellt, sind große Teile der Bevölkerung vor allem auf dem Land bitterarm und den alten Traditionen verhaftet. Aber auch das Regime unter König Hassan II sieht diese Freiheitsbestrebungen mit Argwohn. Bereits 1965 ließ er Studentenproteste blutig niederschlagen. Und äußerte den auch von Leïla Slimani in Schaut wie wir tanzen zitierten Satz: "Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, dass es für den Staat keine größere Gefahr gibt als einen sogenannten Intellektuellen. Es wäre besser gewesen, wenn Sie alle Analphabeten wären." 1968 beendet Aïcha gerade ihr Medizinstudium in Straßburg und kehrt nach Marokko zurück. Sie verbringt viel Zeit mit ihren liberalen Freunden Monette und Henri. Über sie lernt sie auch den Wirtschaftsstudenten Mehdi kennen, wegen seines großen Ernstes und Eifers Karl Marx genannt. Die beiden verlieben sich und werden später heiraten. Sie sind die Alter Egos von Slimanis eigenen Eltern. Mit der Geburt ihrer kleinen Tochter endet das Buch. Und hier kommen sich auch Mathilde und Amine wieder näher. Zuvor werden wir Zeug:innen ständiger Konflikte zwischen den beiden. Das beginnt in der Eingangsszene, als Amine endlich dem Drängen seiner Frau nachgibt und einen Swimmingpool bauen lässt. Trotz ausgedehnter Ländereien wählt er dafür aber Mathildes geliebten, üppigen Garten. Den Baumaßnahmen fällt auch der Zitrangenbaum zum Opfer, im ersten Teil der Trilogie Symbol für das Gefühl, nirgends hundertprozentig dazuzugehören. Amines subtile Rache für die dekadente Verschwendung, die ein Pool in seinen Augen darstellt. Und gleichzeitig auch ein Symbol für die Spannungen, die auch im Land herrschen zwischen westlich orientierten Liberalen und dem Islam verbundenen Bevölkerungskreisen. Moderne kontra Tradition, Demokratiebestrebungen kontra Monarchie. 1969 bekommt natürlich auch die Mondlandung einen Platz. Leïla Slimani zeichnet mit Schaut wie wir tanzen ein atmosphärisch dichtes Sittenbild. Besonders die jungen Leute streben nach Selbstbestimmung, wollen die Fesseln ihrer Eltern lösen, eine eigene Identität finden. Gerade die Frauen stoßen dabei immer wieder an Grenzen. Und auch Aïcha erfährt das Dilemma, als Gynäkologin und Ehefrau, später Mutter, immer in einem auch heute noch aktuellen Dilemma zu stecken. So schnell stürzt man nicht das Patriarchat. Auch wenn der Fokus auf der Generation von Aïcha liegt – ihr Bruder Selim erhält deutlich weniger Platz, sein „Ausflug“ mit westlichen Hippies, die zuhauf in Marokko einfallen und vor allem im südwestlichen Küstenort Essaouira eine richtige Kolonie errichten, und seine Drogenerfahrungen seziert Slimani mit einer gehörigen Portion Spott -, begegnen wir auch anderen, aus Das Land der Anderen bekannten Figuren. Zum Beispiel dem Bruder Amines, Omar, der sich dem marokkanischen Geheimdienst verschrieben hat, seiner Schwester Selma, die ihre Freiheit als Edelprostituierte sucht, und vielen anderen. Am Beginn von Schaut wie wir tanzen hat Leïla Slimani ein ausführliches Personenverzeichnis beigefügt. Dicht und lebendig, in klarer Sprache und trotz der Fülle leichthändig verknüpft die Autorin eine ganz persönliche Familiengeschichte mit politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Auf den dritten Teil freue ich mich schon heute.

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