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Rezension zu
Inmitten der Nacht

Ende einer Ferienidylle

Von: LiteraturReich
08.02.2022

Alles beginnt zunächst recht idyllisch: eine typische New Yorker Mittelstandsfamilie ist auf dem Weg in den Sommerurlaub, weit draußen auf Long Island. Das gemietete Ferienhaus ist eigentlich eine Nummer zu teuer, aber dieses Jahr soll alles perfekt sein: Abgeschiedenheit, Pool, Luxus. Doch schon am Abend des ersten Ferientages, Inmitten der Nacht, wird diese Idylle empfindlich gestört, und doch führt uns Autor Rumaan Alam damit zunächst gehörig in die Irre. Die Störung, die Clay und Amanda da heftig durcheinanderwirbelt, besteht aus G.H. und Ruth Washington, den Schwarzen Besitzern des Hauses, die plötzlich vor der Tür stehen und um Einlass bitten. Ein Stromausfall in Manhattan hat sie von dort vertrieben und sie suchen nun Zuflucht hier draußen auf Long Island. Nach dem ersten Schrecken stellt sich besonders bei Amanda eine starke Abwehrhaltung ein – „das Haus sieht gar nicht so aus, als würde es Schwarzen gehören.“ Man ist ja liberal, aber… Außerdem haben Clay und sie das Haus teuer gemietet. Natürlich schwingt da auch eine gehörige Portion Rassismus mit, aber man einigt sich schließlich, dass die Washingtons zumindest eine Nacht in der Einliegerwohnung verbringen können – gegen finanziellen Ausgleich. Als Leser:in vermutet man nach der ersten Skepsis – sagen die beiden „Eindringlinge“ wirklich die Wahrheit? – nun eine Auseinandersetzung, die Rassismus und Klassismus als Zentren hat. Tatsächlich schauen die in der New Yorker Park Avenue beheimateten Washingtons ein wenig auf ihre Mieter herab. Bald schon merkt man aber, dass sich da etwas ganz anderes zusammenbraut. Während der sechzehnjährige Archie und die dreizehnjährige Rose noch unbeschwert im Pool planschen und den angrenzenden Wald erkunden, versuchen die Erwachsenen herauszubekommen, was „draußen“ vor sich geht. Handyempfang gibt es hier generell nicht, aber nun sind auch der Festnetz-, der Internet- und der Fernsehanschluss tot. Von einem gigantischen Hurrikan ist die Rede, von großflächigen Stromausfällen. Und dann kommt der Knall. Der ist so ohrenbetäubend, dass Fensterscheiben zerspringen. Er teilt „das Leben in zwei Teile“. Flugzeuge überfliegen das Land in geringer Höhe, weitere Detonationen sind zu hören. Was geht hier vor sich? Fern von jeder Informationsquelle versuchen sich die beiden Familien in vermeintlich logischen Erklärungen, die vor allem einem dienen, der eignen Beruhigung, dem Abwiegeln. Strom ist hier ja noch vorhanden, die Lebensmittelvorräte gut gefüllt, sogar die Pool-Filteranlage läuft noch. Was kann da schon passieren? Die sich zu Beginn fast ein wenig feindselig gegenüberstehenden Familien wachsen zu einer Art Schicksalsgemeinschaft zusammen. Rumann Alam seziert seine Figuren genüsslich, aber immer mit einer gehörigen Portion Sympathie. Sie alle sind vielleicht nicht unbedingt sympathisch, aber sehr menschlich gezeichnet. Ihre manchmal auch irrationalen Verhaltensweisen sind absolut nachvollziehbar. Mysteriös wird es, als große Rudel Rehe am Haus vorbeiziehen und ein Schwarm Flamingos gesichtet wird. Und hört man nicht plötzlich weder Vögel noch Flugzeuge am Himmel? Gänzlich bedrohlich wird es, als Archie zusammenbricht. Spätestens hier merkt man, dass man mit diesem Kammerspiel – bis auf wenige kurze Fahrten in die Umgebung spielt sich alles im Ferienhaus ab – in einen veritablen Katastrophenthriller geraten ist, der die Themen Klimazerstörung, Technologieabhängigkeit und Überflussgesellschaft streift, um dann in einem allgemeinen Bedrohungsszenario zu landen. Der Autor gibt zwar manchmal in die Zukunft weisende Informationshäppchen preis, der Gesamtzusammenhang der Ereignisse wird aber bis zum Ende nicht deutlich. Das mag vielleicht manche(n) Leser:in unzufrieden zurücklassen, mich hat aber gerade diese Unklarheit sehr gefesselt. Ich weiß nicht, ob ich das Buch ohne die Pandemieerfahrung anders gelesen hätte, aber gerade diese Unsicherheit, die Unklarheit und Unwissenheit, dieses schwindende Vertrauen in die Institutionen fand ich sehr typisch auch für die aktuelle Lage. Das lässt die Figuren einerseits auch auf ihre Instinkte zurückfallen (vor allem der Mutterinstinkt wird hier immer wieder angesprochen), andererseits aber auch eine neue Form der Solidarität entstehen. Die Ambivalenzen, die Rumaan Alam in Inmitten der Nacht so bewundernswert zulässt, entstehen vor allem durch die permanenten Wechsel seiner 3. Person-Perspektiven. Wie die Figuren versuchen, beruhigende Erklärungen für die Vorkommnisse zu finden, Normalität aufrechtzuerhalten, und sei es durch Kochen, Backen oder Wäsche machen, die Angst zu verdrängen, zu funktionieren - das ist sehr realitätsnah und beklemmend. Die Menschen sind ja ein Stück weit an Bedrohungsszenarien gewöhnt, Terror, Naturkatastrophen, politische Schreckszenarien. Es geht doch immer weiter, oder? Rumaan Alam veröffentlichte Inmitten der Nacht in den USA 2020 mitten in der ersten Welle der Corona-Pandemie. Das Buch war da natürlich schon lange verfasst, es schlug aber gerade zur passenden Zeit ein. Es wurde ein Bestseller, stand auf der Shortlist des Booker Prize. Ich finde, zu Recht. Rumaan Alam baut eine ungeheure Spannung auf, konstruiert geschickt und intelligent, entwickelt seine Figuren ambivalent und überzeugend. Er erzählt mit detailfreudiger Genauigkeit und mit leiser Ironie. Und bietet damit einige atemberaubende Lesestunden.

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