Sie haben sich erfolgreich zum "Mein Buchentdecker"-Bereich angemeldet, aber Ihre Anmeldung noch nicht bestätigt. Bitte beachten Sie, dass der E-Mail-Versand bis zu 10 Minuten in Anspruch nehmen kann. Trotzdem keine E-Mail von uns erhalten? Klicken Sie hier, um sich erneut eine E-Mail zusenden zu lassen.

Rezension zu
Grenzgänge

Identität basteln

Von: Bjoernandbooks
26.10.2021

Der Tod des Vaters, die Flucht der Schwester, die Resignation der Mutter – all dies lässt Bujar schon in früher Jugend sämtlichen Halt verlieren. Seine Heimat Albanien befindet sich in einem politischen Umbruch; Sicherheit und Stabilität, gesellschaftlicher wie familiärer Rückhalt fehlen Bujar und treiben ihn fort: von sich selbst, seiner Identität, seinem Land und Leben. Gemeinsam mit seinem besten Freund Agim beschließt er zu fliehen, zunächst aus Tirana, später aus dem Land, das ihnen keine Hoffnung zu versprechen vermag. Jahre später erfahren wir von Bujars Irrfahrt durch die Metropolen Europas und der USA, eine permanente Sinnsuche, der Versuch, sich selbst und das, was ihn als Mensch ausmacht, zu finden, in Rom, Madrid, in New York und schließlich Helsinki. Und die Suche nach der Liebe, nach dem, was Bujar unter Liebe meint zu verstehen. „Wäre es nicht besser, sich einfach darauf zu konzentrieren, einzigartig zu sein?“ (S. 164) Mit „Grenzgänge“ ist Pajtim Statovci ein fantastischer Roman gelungen, der die Grenzen von Wahrheit und Imagination, Identität und Herkunft, Geschlecht und Sexualität dezidiert auslotet. Bujar ordnet sich in keine Form der Polarität ein, ist mal Mann, mal Frau, liebt über die Grenzen hinweg und schafft sich immer wieder neue Identitäten und Geschichten seiner Herkunft. Er*sie ist das, was er*sie in dem Moment meint zu sein, was ihm*ihr Halt gibt, ihn*sie stärkt und beruhigt. Die Wirren seiner*ihrer Jugend, vor allem ausgelöst durch den Tod des Vaters und den damit verbundenen Zerfall der Familie, haben die Persönlichkeit zersplittert, Identität als Konstruktion offengelegt. Statovcis „Grenzgänge“ verknüpft damit die jüngere Historie Albaniens mit einer Coming-of-Age-Geschichte der besonderen Art. Er exemplifiziert an seiner*m Protagonisten*in Bujar die soziologischen Diskurse der Gegenwart um Geschlecht, Körper und Provenienz und zeigt Wahlmöglichkeiten auf. Gleichzeitig erzählt er in wunderbar intensiver Manier die Geschichte eines jungen Menschen auf der Suche nach sich selbst. Die hervorragende Übersetzung von Stefan Moster schafft es, eine Atmosphäre zu kreieren, die es den Leser*innen möglich macht, einen Hauch Albanien zu spüren, das Albanien der jüngeren Vergangenheit in all seiner Verlorenheit ebenso wie die historisierte Form der Nation, repräsentiert durch clever eingestreute Sagen und Mythen. Diese Legenden erscheinen wie Phantasmagorien, wie Trugbilder, die metaphorisch die erzählte Gegenwart widerspiegeln und damit das Spiel von Wahrhaftigkeit und Maskerade, das Bujar in der Folge für sich inkorporiert, vorwegnehmen. Eine wahrlich unendlich intelligente Konstruktion, die gleichzeitig so geschickt in die narrative Ebene eingeflochten ist, das sie eben nie konstruiert wirkt. „Grenzgänge“ ist gleichzeitig spannende, road-movie-artige Erzählung, Geschichtsunterricht über den unterrepräsentierten Balkan-Staat und literarisches Psychogramm. Die emotionale Beteiligung der Leser*innen wird stetig hoch gehalten; der Plot-Twist fünf Seiten vor Ende des Buchs, der vieles erklärt und freilegt, ist überraschend und gleichzeitig dramatisch und voller Gefühl. Eine unbedingte Leseempfehlung dieses wundervollen Romans, der die Themen, die die gesellschaftliche Debatte derzeit beschäftigen, so unaufdringlich und gleichzeitig drängend zu bearbeiten weiß, dass ein intensiver Lesegenuss höchster Güte entsteht! Danke!

Wir stellen nicht sicher, dass Rezensent*innen, welche unsere Produkte auf dieser Website bewerten, unsere Produkte auch tatsächlich gekauft/gelesen haben.