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Rezension zu
Frühling

Ist eben April

Von: LiteraturReich
11.07.2021

Die britische Autorin Ali Smith hat mit ihrem Jahreszeiten-Zyklus, dem aktuell nach Herbst und Winter der Frühling zugesellt wurde, eines der interessantesten Buchprojekte der letzten Jahre geschaffen. 2016 begonnen und jährlich um einen Band erweitert, waren und sind die Romane nah dran an den aktuellen Geschehnissen und Befindlichkeiten auf der Britischen Insel und der Schieflage, die in vielen Bereichen dort aufgetreten ist. Ob Brexit, zunehmende soziale Kälte oder Ende des Wohlfahrtstaats, ihre politisch brisanten Themen kombiniert sie mit zahlreichen literarischen Anspielungen, viel Geist und Witz. Shakespeare und Dickens ihre literarischen Heiligen, in Frühling huldigt sie zusätzlich noch Rainer Maria Rilke, Katherine Mansfield, Charlie Chaplin und Beethoven – wie immer augenzwinkernd. „Andy Hoffnung“ ist der Titel des Films, mit dem ihr Protagonist, der Regisseur Richard Lease, bekannt geworden ist. Eher so mittel begabt, hat er in letzter Zeit viel fürs Fernsehen gearbeitet und trauert nicht nur seinen Glanzzeiten, sondern aktuell seiner Kollegin und Freundin Paddy nach, die unlängst mit 85 Jahren verstorben ist. Stets war sie seine Ratgeberin, sein Lebensmensch und kurzzeitige Geliebte. Richard selbst geht nun auf die Siebzig zu und steckt in einer Schaffenskrise. Für eine Literaturverfilmung soll er die rein hypothetische Begegnung von Rainer Maria Rilke und Katherine Mansfield, die 1922 zur gleichen Zeit in der Schweizer Stadt Siders weilten, zu einer kitschigen Liebesromanze umdichten. „April“ heißt die Romanvorlage, geschrieben von einer gewissen Bella Powell. Das Projekt bereitet ihm Bauchschmerzen. Auch privat hält ihn vermeintlich nichts – am Leben. Richard besteigt wahllos einen Zug nach Norden und steigt irgendwo, im kleinen Nest King Gussie, aus mit dem Plan, sich unter den Zug zu legen. „Ganz ungefährlich ist es nicht, mit einem Bein in Märchen zu stehen“. Zwar ist es Brit, die zweite Hauptprotagonistin, die das sagt, aber auch Ali Smith beginnt hier in Frühling eine Art Märchen. Und auch das ist nicht ganz ungefährlich. Aber es funktioniert. Denn kurz bevor der Zug anfährt und Richards Leben beendet, erscheint Florence, ein zwölfjähriges Schwarzes Mädchen. Wie eine Heilige oder eben eine Märchengestalt reicht sie Richard die Hand und holt ihn zurück ins Leben. Zuvor hat sie schon Brittany, die bodenständige, pragmatische Mitarbeiterin des Sicherheitsdienstes in der Flüchtlingsunterkunft, in der auch Florence lebt, dazu bewogen, mit ihr in eben jenem Zug nach Norden zu fahren. Weitere Wundertaten werden ihr nachgesagt und es ist tatsächlich auch fast ein Wunder, dass man diesem Plot Twist der Autorin ins Surreale so bereitwillig folgt. Aber das ist ja bei den beiden Vorgängerromanen auch nicht anders, in denen man den Traumwelten eines Sterbenden 101jährigen folgt oder einem schwebenden Kinderkopf zuschaute. Zusammen mit Richard, Brit und der Kaffeetruckfahrerin Alda, die allerdings leider keinen Kaffee im Angebot hat, fährt Florence weiter nach Norden, nach Nordschottland. In Frühling geht es Ali Smith diesmal um Obdachlosigkeit, um den Umgang mit Geflüchteten und mit unserer Welt, um Mitmenschlichkeit. Trotz Märchen, trotz Heiligen- und Wundergeschichte gibt es keinen Kitsch und kein Happy-End. Da ist die Autorin zu sehr Realistin. Endpunkt der Reise ist das Culloden Battlefield in Inverness. Hier fand 1746 die letzte Schlacht zwischen Schotten und Engländern stattfand. Wie alle ihre Romane erzählt Ali Smith auch Frühling in einer hochliterarischen, wunderbaren Sprache, die gleichzeitig sehr lesbar, ja geradezu leicht ist. Gerade die Dialoge sind leicht versponnen, es gibt Heiterkeit und Humor. Ali Smith geht es genauso um Literarizität ihrer Prosa wie um ihre Relevanz. Denn, dass sie eine politische Autorin ist, der es um den Zustand der Gesellschaft geht, dass sie etwas dazu zu sagen hat, macht sie wieder gleich zu Beginn deutlich. In einer wütenden, aggressiven, zynischen Tirade, die sehr an einen mittlerweile abgewählten Politiker erinnert, legt sie los: „Also Tatsachen, die können wir nicht gebrauchen. Wir wollen Verwirrung. Wir wollen Wiederholung. Wir wollen Wiederholung. Wir wollen Menschen mit Einfluss, die sagen, die Wahrheit ist nicht die Wahrheit. (…) Wir wollen die Not. Wir brauchen das Elend.“ Das Buch entstand 2018, die Veränderungen, die die US-Wahl im letzten Jahr brachte, waren noch nicht zu erwarten. Aber einem Buch, das Frühling betitelt ist, würde etwas fehlen, gäbe es nicht die Hoffnung, den Aufbruch, den Neubeginn. Deshalb stellt Ali Smith ihm neben Zitaten von Shakespeare, Rilke und Mansfield auch eines des Philosophen Alain Badiou voran: „Wir müssen anfangen, darauf kommt es an. Nach Trump müssen wir anfangen.“ Der Beginn ist gemacht. Und in einer Art zweitem Prolog lässt Ali Smith diesmal die Lebenskraft der Natur, die im Frühling zum Tragen kommt, zu Wort kommen. Das sie stärker ist als wir, ist Hoffnung und Überzeugung. „Verpfuscht nur mein Klima, ich vermasseln euch das Leben. Euer Leben ist für mich ein Klacks. Im Dezember reiße ich Narzissen aus dem Boden. Im April versperre ich euch die Tür mit Schnee und werfe den Baum um, der dann euer Dach zertrümmert. Ich bedecke euer Haus mit dem Fluss. Doch ich werde der Grund sein, weshalb sich wieder Leben in euch regt.“ Ich bin gespannt, was der Sommer bringen wird (ET 26. Juli 2021).

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