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Rezension zu
Trauma

Beklemmend realistische Einblicke in die Psychiatrie

Von: WolfgangB
09.05.2021

Eine namentlich noch unbekannte Ich-Erzählerin erwacht mit einer Beklemmung wie nach einem Alptraum. Was ist passiert? Sie muss sich erst orientieren. Ihre Umgebung erweckt den Anschein eines Krankenhauses. Wo ist sie? Wie ist sie hierhergekommen? In ihrem Gedächtnis klafft ein Loch, das eine diffuse Ahnung nur unzureichend auffüllt. Mit dieser ganz und gar unbehaglichen Situation eröffnet Angelique Mundt ihren mittlerweile vierten Roman. Die Autorin ist bekannt für subtile Geschichten, in deren Zentrum sich Charaktere in emotionalen Ausnahmesituationen finden. Dass die menschliche Seele wenig ausgeleuchtete Tiefen wie ein Ozean birgt, weiß die Psychotherapeutin aus ihren Erfahrungen in der Kriseninterventionsarbeit des Roten Kreuzes. Dieses Wissen verleiht den Romanen eine Spannung, die sich beim Lesen unter der Haut einnistet. Wenig gibt die aktuelle Hauptfigur vorerst über sich selbst preis. Sie lässt durch ihre Augen blicken, versucht, ihre Wahrnehmungen in einen Kontext einzuordnen, die Situation einzuschätzen, um Rückschlüsse auf die verschüttete Erinnerung zu ziehen. Ihr Verstand arbeitet auf Hochtouren, doch sie scheitert an der Interaktion mit anderen Menschen. Die zahlreichen Fragen, die an sie gerichtet werden, beantwortet sie ausführlich in ihren Gedanken, doch ihre Stimme bleibt stumm. Ein Blick auf den Titel des Buches bestätigt die Diagnose. Erst nach gut fünfzig Seiten findet sie ihre ersten Worte: " 'Nennen Sie mich Leila.' Ich stocke. 'Ich weiß nicht, ob ich eine Mörderin bin. Ich erinnere mich nicht. Aber ich bin nicht in Sicherheit. Im Gegenteil: Ich werde bedroht. Ich habe Angst.' " (S. 59) Leila hat einen Mord miterlebt, ob als Zeugin oder als Täterin, das ist die zentrale Frage des Buches. Inzwischen ist sie in der psychiatrischen Abteiliung einer Klinik angekommen. Als der erzählerische Blick sich weitet, vermittelt die Autorin Einblicke, für die andere Kreative mühsam recherchieren müssten. Der Tagesablauf ist klar strukturiert, Ärztinnen und Ärzte unterhalten sich im medizinischen Jargon, die Mitglieder des Pflegepersonals reagieren professionell auf die Eigenheiten der Patientinnen und Patienten. Die unterschiedlichsten Persönlichkeiten mit ihren individuellen Krankheitsbildern treffen aufeinander, kein Ausgang einer Begegnung ist vorhersehbar. Die Gesprächsfetzen und Requisiten erzeugen beim Lesen eine beklemmend realistische Atmosphäre. Zutiefst nachvollziehbar ist Leilas Reaktion auf ihre schlagartig veränderte Situation. Sie trotzt ihrer neuen Rolle als Patientin, will sich ein Stück dessen schaffen, was auf der anderen Seite der schweren Eingangstür als Normalität empfunden wird. In der demenzkranken Hanne und dem suizidgefährdeten Benjamin findet sie dabei zwei ebenso schrullige wie eigenwillige Verbündete. Eine Hauptfigur, der die Erinnerung an ein traumatisierendes Ereignis fehlt ... schon mit wenig Thrillererfahrung ist Leila rasch als eine "unzuverlässige Erzählerin" identifiziert. Von Beginn an ist klar, dass ihrer Wahrnehmung nicht zu trauen ist. Üblicherweise lassen sich Leser:innen des Genres dankbar von der angebotenen Identifikationsfigur durch die Geschichte begleiten, nur um schließlich das sicher geglaubte Wissen wieder hinterfragen zu müssen, weil diese Figur sich als nicht vertrauenswürdig herausstellt. Das Aha-Erlebnis ist dabei ein erprobtes Thriller-Stilmittel. Angelique Mundt verwendet dieses Werkzug anders als eigentlich erwartet. Zu einer potentiellen Mörderin mit entscheidenden Erinnerungslücken wahrt man von vornherein einen emotionalen Sicherheitsabstand. Die Herausforderung besteht nun darin, diese Distanz zu überbrücken und die Leser:innen von der geistigen Gesundheit ihrer Protagonistin zu überzeugen. Dazu gestaltet die Autorin immer wieder Situationen, in denen Leila schlüssig denkt, nachvollziehbar handelt. Sie reflektiert über ihre eigene Situation, knüpft neue Freundschaften, ergibt sich nicht in ihr Schicksal, sondern ergreift entschlossen die Initiative. Ihre stärkste Antriebskraft ist die Sorge um ihre Tochter Luna. "Die Verzweilfung rumort in mir, als meine Freundin die Tatsachen wie nebenbei einstreut. Für mich bedeutet die geschlossene Station keinen Schutz. Ich bin auf dem Weg ins Gefängnis. Wie rapide ich ins Bodenlose gefallen bin!" (S. 135) Als Leila jedoch in in einem Traum den wahren Mörder zu erkennen glaubt, gerät die wackelige Vertrauensbrücke gefährlich ins Wanken. Leila ist besessen von ihrem Verdacht. Ohne ihr Traumbild weiter zu hinterfragen, setzt sie alles daran, eindeutige Beweise zu finden. Und spätestens an diesem Punkt hat das Bedürfnis der Leser:innen nach persönlicher Bekanntschaft mit der Romanfigur wieder den Ausgangswert erreicht. Unabhängig davon, ob Leila recht behalten wird, treibt die Suche nach dem wahren Mörder durch das Buch. Geschickt bringt die Autorin unterschiedliche Charaktere mit möglichen Tatmotiven in Stellung. Die interessanteste Frage bleibt jedoch, ob Leila eine Zukunft im Gefängnis oder gemeinsam mit ihrer Tochter bevorsteht. Persönliches Fazit "Trauma" ist ein Thriller rund um eine Frau, die sich selbst verloren hat. Ihre Wahrnehmungen, Gedanken und Zweifel zeichnen ein realistisches Bild einer seelischen Störung, ohne dabei den titelgebenden Begriff "Trauma" inflationär abzunutzen. Als Psychotherapeutin schildert die Autorin dabei realistischer als anderswo den Alltag in einer psychiatrischen Klinik.

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