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Rezension zu
Über Menschen

Blühende Freundschaften

Von: Barbara Busch
26.04.2021

"Kohls blühende Landschaften gibt es bis heute nicht, die blühenden Freundschaften von Bracken dagegen schon." (S. 346) Der neue Romantitel von Juli Zeh ist ein gelungenes Wortspiel: Auf "Unterleuten" (2016) folgt nun "Über Menschen", Anklänge an Friedrich Nietzsche nicht zufällig. Beide Romane spielen in unterschiedlichen fiktiven Dörfern in der Prignitz im nordwestlichen Brandenburg, "Unterleuten" im Jahr 2010, "Über Menschen" im ersten Corona-Frühling und -Sommer 2020. Flucht Anstatt vieler Perspektiven gibt es dieses Mal nur die Sicht einer Protagonistin: Dora Korfmacher. Die hat mit 36 Jahren ein immer anstrengenderes, zuletzt unerträgliches Leben in Berlin aufgegeben und ist mit ihrer Mischlingshündin Jochen-der-Rochen in ein kurz vor der Pandemie ohne bestimmtes Ziel erworbenes, heruntergekommenes ehemaliges Gutsverwalterhaus mit grauer Stuckfassade und verwildertem Grundstück gezogen. Aus 80 Quadratmeter saniertem Altbau mit Balkon in Kreuzberg wird Dorfrandlage von Bracken, bröckelnde Straßen, efeuüberwucherte ehemalige Kneipen und komplett fehlende Infrastruktur. Vordergründig hat die Wende ihres Lebenspartners Robert vom überzeugten Klimaschutzaktivisten zum fanatisch-selbstgefälligen Corona-Apokalyptiker den Ausschlag gegeben, es ist aber auch eine Flucht vor der Überforderung im sich immer schneller drehenden Projekte-Hamsterrad einer Werbeagentur für nachhaltige Produkte. Neue Nachbarn Nicht dass Dora nicht gewarnt gewesen wäre: "In die Prignitz? Was willst du denn bei den ganzen Rechtsradikalen?" (S. 45) Unverblümt stellt sich der kahlgeschorene neue Nachbar jenseits der Mauer, Gottfried Proksch, genannt Gote, vor: „Angenehm“, sagt Gote, „Ich bin hier der Dorf-Nazi.“ (S. 45) Gote lebt in einem Bauwagen im eigenen gepflegten Garten neben seinem Haus, beherbergt die wegen Corona vorübergehend bei ihm untergebrachte zehnjährige Tochter Franzi und entpuppt sich als ebenso hilfsbereit wie radikal. Da es bei 285 Einwohnern keine Anonymität gibt, keine Möglichkeit für Dora, sich in der eigenen Blase zu bewegen, kommt sie den 27 Prozent AfD-Wählern zwangsläufig nah: "In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben. Wirst dich daran gewöhnen müssen." (S. 128) "Über Menschen" ist eine wohlkalkulierte Zumutung für die Leserinnen und Leser. Kaum hat man sich angesichts der selbstverständlichen Hilfsbereitschaft und väterlichen Zuneigung von Gote leicht entspannt, pöbelt er über „Pflanzkanacken“, erzählt von Pyrotechnik vor Flüchtlingsheimen, beschimpft eine indische Ärztin oder grölt mit Kumpanen das Horst-Wessel-Lied. Heini, ebenso handwerklich begabt wie Gote, würzt seine selbstlosen Hilfseinsätze mit rassistischen Sparwitzchen. Sadie, alleinerziehende Mutter in Dauernachtschicht, mit einer Wirklichkeit, „in der es um Dinge geht, von denen in Prenzlauer Berg niemand etwas ahnt“ (S. 216/217), beklagt ungerechtfertigte Unterstützung für „die Ausländer“. Das schwule Pärchen Tom und Steffen hat einen AfD-Sticker neben der Klingel („Geht ja nicht anders.“ S. 126), obwohl Steffen in seinem Kabarettprogramm Rechte aufs Korn nimmt. Leicht zu lesen, schwer zu verdauen Juli Zeh lässt uns Dora, die mit Youtube-Videos gärtnernde Städterin, beim Erlernen der Dorfregeln und beim Aushalten der Ambivalenzen ihres neuen Lebens zuschauen: "Eine Bedrohung des lebenswichtigen Irrtums, man könne das Gute und das Böse spielend leicht auseinanderhalten." (S. 194) Dora muss, will sie bleiben, Klischees auflösen, lernen, miteinander – statt wie in Berlin übereinander – zu reden und den Glauben an die eigene Überlegenheit aufgeben. Sehr gelungen sind die oft entlarvenden Dialoge voller sprachlicher Missverständnisse und Doras automatisch anspringendem Werbetexter-Hirn. Ob wir diesen Roman auch noch in zwanzig oder dreißig Jahren lesen werden? Ich bin mir nicht sicher. Aber ein interessanter, lesenswerter Diskussionsbeitrag zu aktuellen deutschen Befindlichkeiten ist er auf jeden Fall.

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