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Rezension zu
Botschaften an mich selbst

Sechs großartige Essays

Von: LiteraturReich
26.04.2021

Was für ein Buch! Selten noch habe ich derart radikal offene, intelligente, völlig ungekünstelt geschriebene Texte gelesen wie die sechs Essays von Emilie Pine in Botschaften an mich selbst. Die 1977 geborene irische Autorin, die in Dublin modernes Drama unterrichtet und mit Notes to self ihren erste nichtakademische Veröffentlichung hatte, erzählt von schwierigen Lebensaspekten, die meist zudem noch gemeinhin tabuisiert und äußerst schambesetzt sind. Sie sollten Botschaften an sich selbst sein, waren aber in Irland so erfolgreich, dass sie umgehend zum Buch des Jahres wurden. In Deutschland sind sie seit Anfang März veröffentlicht, haben aber bisher in der Literaturkritik bedauerlicherweise kein allzu großes Echo hervorgerufen. Der Einstieg ins Buch ist einigermaßen schockierend. „Als wir ihn finden, liegt er schon seit Stunden in seinem Kot.“ Die Übersetzerin Cornelia Röser hat diesen ersten Satz durch ihre Wortwahl sogar noch etwas abgemildert. Der erste Text, den er einleitet, „Über Unmäßigkeit“ betitelt, ist die Keimzelle des Buches. ÜBER UNMÄSSIGKEI Im Jahr 2013 erhielten Emilie Pine und ihre jüngere Schwester einen Notruf des bereits seit Jahren auf Korfu lebenden Vaters. Der Schriftsteller Richard Pine hat sich schon vor Jahren von seiner Frau und Familie getrennt und ist schwer alkoholkrank. Nun ist seine chronische Lebererkrankung eskaliert und eine Ader der Speiseröhre geplatzt, eine potentiell lebensgefährliche Situation. Wie soll man da reagieren, wenn über 3000 Kilometer dazwischen liegen? Emilie organisiert einen Rettungswagen und macht sich sogleich mit der Schwester auf den Weg nach Korfu. 24 Stunden später sind sie am Bett des Vaters und lernen die riesigen Defizite des griechischen Gesundheitswesens kennen. Die Zustände im Krankenhaus sind unglaublich, erst als der Vater in eine Privatklinik verlegt werden kann, schwindet ein wenig die Anspannung. „Wenn man hier keine Familie hat, stirbt man.“ Das ist die allgemeine Überzeugung im öffentlichen Krankenhaus. Die Hilflosigkeit und Verzweiflung, die Emilie erfüllt, macht ihr aber auch die Liebe klar, die sie trotz allem für ihren Vater empfindet. Einen Vater, der wegen seiner Depressionen, seiner Alkoholsucht, vielleicht auch Eigensucht, nie eine verlässliche Größe im Leben der Schwestern war. Als Emilie fünf Jahre alt ist, trennen sich die Eltern. Eine Scheidung ist in Irland nicht möglich, auch die Trennung gesellschaftlich verpönt. Emilie spürt früh, dass sie, dass ihre Familie anders ist. Finanzielle Unterstützung durch den Vater gibt es kaum. Das bedeutet für die alleinerziehende Mutter und die Mädchen auch Armut, vor allem aber ein Gefühl des nicht geborgen Seins, der Überforderung, der Einsamkeit. Es vermittelt die Botschaft, alle Krisen allein meistern zu müssen. ETWAS ÜBER MICH Für Emilie bedeutet das eine sogenannte „wilde Jugend“, besonders nachdem die Mutter mit den Mädchen nach London übergesiedelt ist (Emilie ist da 14). Eine Essstörung, Alkohol, Drogen, wahllose sexuelle Kontakte, zeitweise ein Leben auf der Straße, Schulverweigerung – eine wilde Mixtur der Selbstdestruktiviät. Ihre Selbst- und Körperablehnung geht so weit, dass sie zwei erfolgte Vergewaltigungen gar nicht als solche wahrnimmt. Sogar die „Rechtfertigung“ des viel älteren Kerls, „Du hast einfach so etwas an dir, so eine Ausstrahlung“, nimmt sie hin. Man kennt das Muster: das Opfer wird zur eigenen Entlastung zur „Täterin“ umstilisiert. Emilie fehlt die Geborgenheit, es fehlen eindeutige Regeln. Sie fühlt sich grenzenlos einsam. „Ich versuche, mir vorzustellen, wie es für meine Eltern gewesen sein mochte, was sie getan haben und was sie hätten anders machen können. Ich habe uns glücklich in Erinnerung, und ich habe uns traurig in Erinnerung. Ich habe uns getrennt in Erinnerung, und ich habe uns vereint in Erinnerung. Ich erinnere mich an alles, und ich erinnere mich nur an Bruchteile eines Ganzen, das sich immer meiner Erkenntnis entziehen wird.“ Es gibt für Emilie auch Menschen und Dinge, die sie unterstützen, Lehrer, Bücher. Dennoch ist es verblüffend, dass sie aus dieser Abwärtsspirale rechtzeitig herauskommt, studiert, die Lehre als ihr Metier entdeckt. Sicher ist es auch ihr langjähriger Partner R., der einen festen Anteil daran hat und dem das Buch gewidmet ist. ÜBER DAS BLUTEN UND ANDERE VERBRECHEN In drei der Essays beschäftigt sich Emilie Pine mit ihrer schwierigen Kindheit und Jugend. Die Texte hören dort aber nicht auf. Sie werden sogar noch dringlicher. In den anderen drei Essays ist es die Frau und ihr Körper, die in den Mittelpunkt rücken. Bodyshaming ist ein ganz aktuelles Thema und Selbstakzeptanz für viele Frauen ungeheuer schwer. Die Form des Körpers, seine Behaarung, die Menstruation, Wechseljahresbeschwerden – zu oft wird über diese Themen einfach geschwiegen. Man redet nicht darüber, sie sind schambesetzt. Fehlgeburten, Unfruchtbarkeit, unerfüllter Kinderwunsch – Pine spricht darüber mit einer frappierenden Offenheit und Ehrlichkeit. Manchmal zweifelt Emilie an ihrer „Weiblichkeit“. Aber: „Und dann weiß ich, dass ich ein Mädchen bin, dass ich richtig bin. Weil nämlich diese Paranoia, nicht weiblich genug zu sein, nicht begehrenswert genug zu sein, nicht gut genug zu sein, der ultimative Ausdruck des Frauseins ist. Diese Paranoia ist ein wesentlicher Teil dessen, wie Frauen unter Kontrolle gehalten werden – dessen, wie wir uns selbst unter Kontrolle halten.“ Mit ihren Texten in Botschaften an mich selbst will Emilie Pine das Schweigen über diese Themen brechen. Sie versucht aber auch, den Grund für diese weibliche Unsicherheit zu benennen. Für sich selbst sieht sie ihn in ihrer Angst. Angst vor allem möglichen, die laut Pine in die Erziehung von Mädchen eingeschrieben ist. „Mädchen wird beigebracht, still zu sein“, „liebenswert“, ihnen wird vermittelt, nicht gut genug zu sein, minderwertigere Tugenden zu besitzen als die „mutigen, kühnen, zielstrebigen“ Jungen. Ein System, das auch (zumindest lange Zeit) in den Schulen etabliert war. Und das bei Frauen dazu führt, „weibliche“ Tugenden, wie beispielsweise Empathie, Feinfühligkeit, Sensibilität, als Schwäche anzusehen. Emilie Pine spricht von „verinnerlichtem Sexismus“. DAS STEHT NICHT IM LEHRPLAN Dieser führte bei Pine zu Selbstausbeutung, dem Gefühl minderwertig zu sein und deshalb härter arbeiten zu müssen. Sie wurde zu einem Workaholic, etwas, das viele Arbeitgeber durchaus schätzen, auch im Universitätsbetrieb. Bei ihr führte es zu Depressionen und einem Burnout. Und zu dem Entschluss, etwas für ihre seelische Gesundheit zu tun. Das Ergebnis sind die Botschaften an mich selbst von Emilie Pine. Ein Versuch, das Schweigen zu brechen. Ein notwendiges Buch. Und ein starkes, hoffnungsvolles Buch. Deshalb ist auch das Cover, das fröhlich und vielleicht ein wenig „zu hübsch“ ist, durchaus passend. Ich hoffe nur nicht, dass es ausgewählt wurde, um das zu suggerieren, wovor Emilie Pine so zurückschreckt: Jugend, Niedlichkeit und Machtlosigkeit.

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