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Rezension zu
Winter

Winter

Von: LiteraturReich
29.01.2021

Ali Smith zu lesen, ist immer ein Erlebnis. Geistreich sind ihre Romane, virtuos, anspielungsreich, sprunghaft. Ihr jüngstes Projekt ist das Jahreszeitenquartett, mit dem die 1962 geborene Schottin 2016 kurz vor dem Brexit-Referendum begann. Herbst war der erste Teil betitelt, der im vergangenen Jahr auch auf Deutsch erschien. Nun folgen in jahreszeitlichem Rhythmus die weiteren Bücher. Winter ist der gerade aktuelle Roman von Ali Smith. Mit ihm macht es die Autorin der Leser:in zunächst nicht ganz leicht. War die stille, gleichfalls funkelnde Herbst-Folge über die zarte Beziehung einer jungen Frau zu einem sterbenden 101-Jährigen sehr zugänglich und berührend, verstört und verwirrt Winter unter Umständen gleich zu Beginn mit seinem Anspielungsreichtum. „Gott war tot: das gleich vorweg.“ Nach diesem Intro, dem eine recht lange Liste von Dingen, die auch tot waren – Romantik, Poesie, Kunst, Literatur, aber auch der Wohlfahrtsstaat, Wahrheit und Fiktion und etliche –ismen beispielsweise – folgt, begegnen wir der Protagonistin des Romans, Sophia Cleves. Die alleinstehende, ältere Ex-Geschäftsfrau lebt allein in ihrem Alterswohnsitz in Cornwall und befindet sich im Gespräch mit einem schwebenden Kopf. Ja, es ist der körperlose Kopf eines Kindes, der durch das Haus schwebt und Sophia in keiner Weise zu beunruhigen scheint. „Wir haben den Bereich der Mythologie betreten.“ wird als Zitat Muriel Sparks dem Roman als Motto vorangestellt. Hier erscheinen auch zwei andere Bezugsgrößen, die man als Ali-Smith-Leser:in bereits kennt: William Shakespeare und Charles Dickens. Der Sturm und Große Erwartungen spielten schon in Herbst eine Rolle. Und Winter lässt Ali Smith wieder mit einem abgewandelten Dickens-Satz beginnen. Denn natürlich spielt bereits dieser erste Satz auf den berühmten Beginn von A Christmas Carol an: „Marley was dead: to begin with.“ Auch Winter ist am Weihnachtsabend angesiedelt. Und wartet mit allerlei Bezügen zur vielleicht berühmtesten Weihnachtsgeschichte außerhalb der Bibel auf. Sophia Cleves, die Dame mit dem schwebenden Kopf, wartet auf ihren erwachsenen Sohn Arthur. Das Verhältnis der Beiden scheint nicht besonders eng zu sein. Als quasi alleinerziehende Geschäftsfrau – der Vater von Arthur war als Schauspieler ständig unterwegs – galt ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich ihrer Arbeit. Arthur führt einen Naturblog – „Art in Nature“ –, obwohl er sich gar nicht so sehr für Natur zu interessieren scheint, und sucht als Copyright-Wart für eine große Medienfirma nach Urheberrechtsverletzungen in Internet. Seine Freundin Charlotte hat sich gerade recht unsanft von ihm getrennt. Da er sie eigentlich seiner Mutter an Weihnachten zum ersten Mal vorstellen wollte, heuert er kurzentschlossen ein Mädchen von der Straße an, für die Feiertage als seine Freundin aufzutreten. Lux heißt das Mädchen. Und man darf den Namen ruhig symbolisch nehmen. Denn wenn ihre kroatischen Eltern sie auch ganz unromantisch Velux, nach der gleichnamigen Dachfenstermarke genannt haben, bringt dieses Mädchen doch – ganz nach der Fensterwerbung – Licht ins Leben von Arthur und Sophia Cleves. Sie ist sozusagen der gute Geist der Weihnacht. Selbst die ruppige, spröde Sophia scheint sie zu mögen. Lux traut sich auch, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, die Mutter und Sohn sonst gern umschiffen. Doch die Drei bleiben nicht alleine. Art ruft, als er bei der Ankunft den beunruhigenden Zustand seiner Mutter feststellt – es ist keinerlei Essen im Haus, Sophia scheint verwirrt -, seine Tante Iris an, die sogleich mit reichgefüllten Taschen anreist. Iris ist das schwarze Schaf der Familie. Rebellisch und politisch engagiert, war sie als junge Frau in den Achtzigern maßgeblich an den Protesten am Air Force-Stützpunkt Greenham Common gegen die Stationierung von Cruise Missiles und dem dortigen Women`s Peace Camp beteiligt. Als Aufwieglerin wurde sie damals vom konservativen Vater und auch von Sophia quasi verstoßen. Das Wiedersehen der beiden Schwestern nach über 30 Jahren ist nerwartungsgemäß nicht konfliktfrei. Hier prallen Welten aufeinander, brechen alte Verletzungen und Rivalitäten wieder auf. Arthur steht dem Ganzen recht hilflos gegenüber. Gleichzeitig bekommt er die „Nachwehen“ seiner Trennung von Charlotte zu spüren. Diese hat seinen Blog und seinen Twitteraccount gehackt und verbreitet darüber Nonsense-Nachrichten. Eine, über die Sichtung des seltenen Kanadawaldsängers in Cornwall, beschert unseren Protagonisten eine Busladung Vogelfreunde, was Ali Smith sehr vergnüglich schildert. Überhaupt kommen trotz des schrecklichen Weihnachtswetter mit Dauerregen und Matsch und der angespannten Stimmung zwischen den Schwestern der Humor und die Ironie nicht zu kurz. Der ständige Wechsel von Außen- und Innenperspektiven schafft interessante Einblicke in die Charaktere und Ali Smith entzündet ein literarisches Feuerwerk mit unzähligen literarischen und künstlerischen Anspielungen. Cymbeline, das Drama von Shakespeare, wird als Blaupause verwendet, William Blakes Illustrationen von Dantes Göttlicher Komödie kommen genauso vor wie da Vincis Mona Lisa, der im Smartphone-Zeitalter die meisten Besucher nur mehr den Rücken zuwenden. Elvis singt „Muss i denn“, Charlie Chaplins Tod spielt eine Rolle und der Weltraumhund Laika. Und man kann die britische Bildhauerin Barbara Hepworth kennenlernen. Sicher gibt es Leser:innen die mit diesem Motivfeuerwerk nichts anfangen können, sich vielleicht überfordert fühlen. Zumal sich zu den kulturellen auch jede Menge politische Motive hinzugesellen. Der Brexit ist eines davon, der schwindende soziale Zusammenhalt der (nicht nur) britischen Gesellschaft, der verheerende Brand im Grenfell Tower 2017 mit 72 Todesopfern, Plastik in den Weltmeeren, Misogynie im Parlament, die Behinderung der Seenotrettung im Mittelmeer, generell die Flüchtlingssituation in Europa. Ich mag es, den Spuren zu folgen, zu googeln, Neues zu erfahren. „Die Menschen in diesem Land sind seit der letzten Wahl schrecklich wütend aufeinander, sagte sie, und unsere Regierung hat nichts getan, was diesen Zorn besänftigt hätte, sondern benutzt die Wut der Menschen für ihre eigenen politischen Zwecke – ein uralter faschistischer Trick, wie er im Buche steht, und ein sehr gefährliches Spiel.“ Ali Smith lässt Winter mit einer Rede des nun endlich aus dem Amt geschiedenen Trump enden, gehalten im Juli 2016, in gewohnt hasserfülltem, herabwürdigendem Ton. „Mitten im Sommer ist es Winter. Weiße Weihnachten. Gott steh uns bei, uns allen.“ Zumindest das hat sich mittlerweile erledigt. Corona war da noch eine mexikanische Biermarke. Es ist eine vielschichtige, hochpolitische, witzige, intelligente, aber auch warmherzige Winter- und Weihnachtsgeschichte, die Ali Smith mit Winter geschaffen hat. Ein Kammerspiel, fast ein Bühnenstück. Eine Gespenstergeschichte vielleicht auch, denken wir an den schwebenden Kopf. Den lockeren Ton hat sie mit ihrem Vorgänger Herbst gemeinsam, auch die sprachliche Virtuosität. Die Geschichte selbst ist vielleicht nicht ganz so zugänglich. Es ist Winter. Vielleicht bringt Frühling, das Ende März erscheinen wird, wieder mehr Offenheit. Leichtigkeit. Ich freu mich drauf.

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