Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit

Ist das menschliche Leben wirklich das Zentrum der Welt?

Woher kommt es, das Leben, und was bedeutet es eigentlich? Um diese beiden Fragen kreist der neue Roman von Karl Ove Knausgård – der in einem inneren Zusammenhang zu seinem letzten Buch „Der Morgenstern“ steht.
Was ist geschehen, bevor dieser unerklärliche, weithin sichtbare Stern am Himmel auftauchte und anscheinend sämtliche physikalische Regeln außer Kraft setzte?

Alles beginnt 1986 im Süden Norwegens. Der junge Syvert Løyning kehrt vom Militärdienst zu seiner Mutter und seinem Bruder ins Haus der Familie zurück. Im fernen Tschernobyl ist gerade ein Atomreaktor explodiert, Norwegen wird von einer Regierungskrise erschüttert. Syvert weiß nicht wirklich, wohin mit sich. Was hält die Zukunft für ihn bereit? Eines Nachts träumt er von seinem toten Vater, und ein unheimliches Gefühl beginnt sich in ihm festzusetzen: sein Vater will ihm eine Botschaft übermitteln. Aber welche könnte das sein? Ratlos beginnt er sich die nachgelassenen Sachen von ihm genauer anzuschauen. Und muss feststellen, dass es ein anderes Leben gab, das sein Vater führte. Eines, das bis in die Sowjetunion führt.

Ein Leben, das mit der russischen Wissenschaftlerin Alevtina zu tun hat, die viele Jahre später an einem Wochenende mit ihrem Sohn nach Samara reist, um den achtzigsten Geburtstag ihres Vaters zu feiern, und da noch nicht weiß, dass sie bald Besuch aus Norwegen bekommen wird. Und mit ihrer alten Freundin Vasilisa, einer Lyrikerin, die ein Buch über einen eigenwilligen und alten Zug der russischen Kultur schreibt: den Glauben an ein ewiges Leben ...

»Literarische Magie!« Aftonbladet

»Ich liebe dieses Buch. Es liegt eine solche Zärtlichkeit in dieser Geschichte … « Dagens Nyheter *

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Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen,
und der Tod wird nicht mehr sein,
noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein;
denn das Erste ist vergangen.


HELGE


Gerade habe ich Rockin’ all over the world gehört, das Album von Status Quo. Ich bin noch ganz aufgewühlt. Als die Platte herauskam, habe ich sie nonstop gehört. Das war 1977, und ich war elf. Seither habe ich die Lieder nie mehr gehört. Bis eben, als ich im Büro saß, mich langweilte und ein paar Spuren in die Vergangenheit folgte, über eine Band, die einer Band ähnelte, die wiederum einer Band ähnelte, und sie plötzlich auf dem Bildschirm vor mir auftauchte. Das Bild des Erdballs, leuchtend im schwarzen Weltraum, mit dem Bandnamen in einer Art elektrischen Schrift und dem Titel der Platte darunter in Computerbuchstaben – wow! Aber so richtig überwältigt war ich erst, als ich das Album anwählte. Ich erinnerte mich an jeden Song, es war, als stiegen die Melodien und Riffs aus ihrem Versteck im Unterbewusstsein nach oben, um das zu treffen und zu umarmen, woraus sie einst erschaffen worden waren. Nun begegneten sie endlich wieder ihrem Ursprung, ihren Eltern, diese alten Status Quo-Songs. Aber nicht nur das.
Mit ihnen tauchte ein Schwarm von Erinnerungen auf, dicht an dicht, an Aromen, Gerüchen, Bildern, Ereignissen, Stimmungen, Atmosphären – you name it. Die Gefühle waren außer Stande, die große Menge von Informationen zu verarbeiten, alles bebte und zitterte in mir während der Dreiviertelstunde, die es dauerte, mir das Album anzuhören.

Ich hatte es auf Kassette gehabt – keiner, den ich kannte, besaß einen Plattenspieler, außer meiner Schwester, die aber ohnehin nur klassische Musik und Jazz hörte – und hatte es ständig auf dem schwarzen Kassettenrekorder laufen lassen, den ich im Vorjahr zu Weihnachten bekommen hatte. Er lief mit Batterien, und ich nahm ihn meistens mit, egal, wohin ich ging. Sang auch die Lieder immer mit.

Wahnsinn, das wieder zu hören!
Und das!
Tutututake us alone men a ment to tain going you where
De du du de du du!


Status Quo, Slade, Mud, Gary Glitter, das waren die Bands,
die wir hörten, die etwas Älteren mochten auch noch Rory
Gallagher, Thin Lizzy, Queen
und Rainbow. Dann kippte das
alles, jedenfalls bei mir, denn plötzlich drehte sich alles um
Sham 69, The Clash, The Police, The Specials. Aber all diesen
Bands bin ich bis heute gelegentlich gefolgt. Status Quo dagegen
nicht. Deshalb war es, als würde etwas in mir explodieren.
Deshalb weinte ich, als ich diese Melodie hörte:

An ai laik it ai laik it ai like it ai like it ai la la la la laik it la
la la laik it
here we go-o:
rockin’ all over the world


Es war im Grunde nicht viel Gutes, was in jenem Jahr des Herrn 1977 passierte, jedenfalls nicht bei mir, es ging eher darum, dass etwas passierte, und nicht zuletzt, dass etwas war.
Dass ich war. Und dass ich dort war.
Zum Beispiel in meinem Zimmer.
Mmmm, der Geruch des elektrischen Heizofens.
Die Musik aus dem Kassettenrekorder.

Nicht sonderlich laut, Vater war zu Hause, aber dennoch so laut, dass die Stimmungen direkt in mich eindrangen.
Der Schnee draußen. Sein Geruch, wenn er nass war, fast so viel Regen wie Schnee.

An ai laik it ai laik it ai laik it ai la la la laik it la la la laik it

Hilde, die meine Tür öffnet.
»Da draußen treibt sich ein Mädchen herum und läuft auf und ab. Kennst du sie?«

Ich stellte mich ans Wohnzimmerfenster. Da war tatsächlich ein Mädchen, das an unserem Zaun entlang ging. Auf die Straße trat und zur gegenüberliegenden Seite wechselte, wo sie stehenblieb und zum Haus hinaufschaute. Sie konnte mich nicht sehen, aber trotzdem. Und danach ging sie wieder zurück, zwischen die Sträucher und weiter am Zaun entlang.

»Kennst du sie?«, fragte Hilde.
»Ja«, sagte ich. »Das ist Trude. Sie geht in die Parallelklasse.«
»Und was macht sie hier?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Sieht ganz so aus, als wäre sie hinter mir her.«
»Ha«, sagte Hilde. »Du bist doch erst zwölf.«
»Ich hatte schon viele Freundinnen«, erwiderte ich.
»Denen du ein Küsschen auf die Wange gegeben hast.«
»Von wegen, ich habe geknutscht.«
»Dann geh raus zu ihr.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Warum nicht? Gehst du mit einer anderen?«
»Sie ist ein bisschen speziell.«
»Zurückgeblieben?«
»Nein, nein. Nur anders.«
»Klingt gut, wenn du mich fragst.«
»Das liegt daran, dass du selbst speziell bist«, sagte ich und sah sie an, denn ihre Miene erhellte sich, als ich es sagte.
»Zurückgeblieben«, fuhr ich fort.
Dann klingelte es.
»Das ist Trude«, sagte Hilde. »Willst du nicht aufmachen?«
»Kannst du mir einen Gefallen tun und ihr sagen, dass ich nicht zu Hause bin?«
»Was bekomme ich dafür?«
»Irgendwas.«
»Die Hälfte von deinen Samstagssüßigkeiten.«
»Okay.«
Ich stand auf der Treppe und hörte Hilde sagen, dass ich nicht zu Hause sei und sie nicht wisse, wo ich mich herumtriebe.
Und dann sah ich Trude im Schneetreiben nach Hause gehen.
Ob es sich exakt so abgespielt hat, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich, dass ich sie gesehen habe, und ich erinnere mich, dass ich eine Menge Süßes weggab, damit Hilde log. Aber am besten erinnere ich mich an den Schnee, an das Gefühl von Schnee, die Stimmung. Neblig war es auch noch. Weißer nasser Schnee, grauer Nebel. Und Rockin’ all over the world
.
Gibt es eine Erinnerung, die einen nicht bestätigt?
Natürlich nicht, denn der Mensch, der das denkt, ist aus Erinnerungen aufgebaut, die ihn darin bestärken, dass es das ist, was er oder sie ist.
Aber ich habe eine Erinnerung, die gleichsam für sich selbst steht. Die mit nichts anderem zusammenhängt. Es war etwas, das ich sah. Und es passierte im selben Winter, ungefähr eine Woche vor Weihnachten 1977. Daran erinnere ich mich ganz ohne die Hilfe der Musik. Diese Erinnerung leuchtet unverständlich in mir.

Unser Haus lag an einer Straße. Auf der einen Seite fiel der Wald schräg zu einer langen, schmalen Bucht ab, auf der anderen lag die Siedlung. Folgte man der Straße bis zur Kreuzung nach unten und wandte sich von dort nach rechts, gelangte man zu einer flachen Brücke, die über die Bucht führte, an deren Außenseite eine Reihe von schwimmenden Bootsstegen und dahinter wiederum der Sund lag.
Eines Abends ging ich allein die Straße hinunter. Es war dunkel und neblig, der Schnee auf der Straße war im Laufe des Tages teilweise geschmolzen, der Asphalt voller Schneematsch.
Ich weiß nicht mehr, wohin ich wollte oder wo ich gewesen war, all das ist aus meinem Gedächtnis verschwunden. Vielleicht wollte ich zu den Bootsstegen hinunter, um zu schauen, ob dort jemand war, es war ein Ort, an dem wir oft herumhingen.
Wie auch immer: Dunkelheit, Nebel, Asphalt mit Schneematsch.
Der Anorak glänzend im Licht der Straßenlaternen.
Über die Brücke. Das Wasser schwarz und kalt.
Aber was war das?
Da unten leuchtete etwas.
Tief unten im schwarzen Wasser war etwas, das leuchtete.
Es vergingen einige Sekunden, bis ich begriff, was es war.
Es war ein Auto.
Erst als ich das verstand, bemerkte ich, dass ein Bordstein fehlte und Reifenspuren zum Rand führten.
Da die Scheinwerfer noch leuchteten, musste es gerade erst passiert sein.
Ich machte kehrt und lief die Straße hinauf. Ich musste zu einem Telefon und einen Krankenwagen rufen. Als ich mich den Häusern näherte, war ich mir meiner Sache allerdings nicht mehr so sicher. Es war nicht gesagt, dass es ein Auto war. Es konnte auch etwas anderes sein. Vielleicht würde ich für nichts und wieder nichts einen riesigen Apparat in Gang setzen. Was würde Vater dazu sagen?
Ich kam zu unserem Haus, zog Jacke und Schuhe aus. Vaters Kopf lugte aus seinem Büro heraus, als er mich hörte.
»Wo bist du gewesen?«
»Oben an dem neuen Geschäft«, antwortete ich.
»Das Essen steht auf dem Tisch«, sagte er. »Und danach geht es sofort ins Bett.«
»Okay«, meinte ich.
Ich tat, wie mir geheißen. Aß die Brote, die er mir gemacht hatte, und ging ins Bett. Lange lag ich in der Dunkelheit und dachte an das Licht unten im Wasser, an das Auto, das unter Wasser lag und leuchtete, während ich hier lag.
Am nächsten Tag waren ein Krankenwagen, ein Streifenwagen und ein Kranwagen dort unten. Am Tag darauf stand es auf der Titelseite der Zeitung. Alle redeten darüber. Nur ich nicht. Heute, fünfunddreißig Jahre später, habe ich immer noch keinem Menschen erzählt, was ich an jenem Abend gesehen oder was ich gemacht habe. Denn ich weiß, wenn ich das Richtige getan hätte, hätte ich ihn retten können. Aber ich tat nicht das Richtige, und er starb. Das braucht keiner zu erfahren. Es ist meine Erinnerung, ganz allein meine, und wenn nichts Unvorhergesehenes geschieht, werde ich sie mit ins Grab nehmen.

Karl Ove Knausgård
© Sølve Sundsbø

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