Als Mathilde die Farm zum ersten Mal besuchte, dachte sie: ›Das ist viel zu weit draußen.‹ Diese Abgeschiedenheit war ihr nicht geheuer. Damals, im Jahr 1947, besaßen sie noch kein Auto und legten die fünfundzwanzig Kilometer von Meknès auf einem alten Eselskarren zurück, den ein Zigeuner lenkte. Amine beachtete weder die unkomfortable Holzbank noch den Staub, der seine Frau zum Husten brachte. Er hatte nur Augen für die Landschaft und konnte es kaum erwarten, den Grund und Boden zu erreichen, den sein Vater ihm vermacht hatte.
1935, nach Jahren harter Arbeit als Übersetzer der Kolonialarmee, hatte Kadour Belhaj diese steinigen Hektar Land erworben. Er hatte seinem Sohn erzählt, dass er davon träumte, sie in einen blühenden landwirtschaftlichen Betrieb zu verwandeln, der Generationen kleiner Belhajs ernähren würde. Amine erinnerte sich an den Blick seines Vaters, an dessen Stimme, die nicht einen Moment gezittert hatte, als er ihm seine Pläne für den Hof darlegte. Einige Morgen Wein, hatte er ihm erklärt, und ganze Hektar mit Getreide. Auf dem sonnigsten Teil des Hügels müsste man ein Haus bauen, umgeben von Obstbäumen und Mandelbaumalleen. Kadour war stolz darauf, dass dieses Land ihm gehörte. »Unser Land!« Er sagte diese Worte nicht wie die Nationalisten oder die französischen Siedler, im Sinne eines moralischen Anspruchs oder eines Ideals, sondern wie ein Grundbesitzer, der sich auf sein gutes Recht beruft. Der alte Belhaj wollte hier begraben werden und dass seine Kinder hier begraben würden, dass diese Erde ihn nährte und ihm seine letzte Ruhestätte gewährte. Doch er starb im Jahr 1939, nachdem sein Sohn sich gerade freiwillig zum Spahi-Regiment gemeldet hatte und stolz Burnus und Pluderhosen trug. Ehe er zur Front aufbrach, verpachtete Amine, als ältester Sohn und nunmehr Familienoberhaupt, das Gut an einen aus Algerien stammenden Franzosen.
Als Mathilde fragte, woran dieser Schwiegervater, den sie nie kennengelernt hatte, gestorben sei, fasste sich Amine an den Bauch und schüttelte schweigend den Kopf. Später erfuhr Mathilde, was passiert war. Kadour Belhaj litt seit seiner Rückkehr aus Verdun an chronischen Magenschmerzen, und keinem marokkanischen oder europäischen Heiler war es gelungen, ihm Linderung zu verschaffen. Schließlich hatte er, der sich rühmte, ein aufgeklärter Mann zu sein, stolz auf seine Bildung und sein Talent für Sprachen, sich beschämt und verzweifelt in das Souterrain einer chouafa geschleppt. Die Hexe hatte sich nach Kräften bemüht, ihn davon zu überzeugen, dass er verflucht sei, dass jemand ihm übelwolle und dieser Schmerz das Werk eines hinterhältigen Feindes sei. Sie hatte ihm ein doppelt gefaltetes Papier mit einem safrangelben Pulver gegeben. Noch am selben Abend hatte er das Mittel, in Wasser gelöst, getrunken und war innerhalb weniger Stunden unter entsetzlichen Schmerzen gestorben. Die Familie sprach nicht gern darüber. Man schämte sich für die Naivität des Vaters ebenso wie für die Umstände seines Todes, denn der ehrenwerte Offizier hatte sich im Innenhof des Hauses entleert, die weiße Dschellaba triefend vor Kot.
An diesem Tag im April 1947 lächelte Amine Mathilde zu und drängte den Kutscher zur Eile, der seine schmutzigen nackten Füße aneinanderrieb. Mathilde zuckte zusammen, als der Kerl noch wüster auf die Mauleselin einschlug. Die Brutalität des Zigeuners empörte sie. Er schnalzte mit der Zunge, »Ra!«, und zog die Peitsche über den knochigen Rücken des Tieres. Es war Frühling, Mathilde war im zweiten Monat schwanger. Auf den Feldern blühten Disteln, Malven und Borretsch. Ein frischer Wind wiegte die Stiele der Sonnenblumen. Zu beiden Seiten der Straße befanden sich die Ländereien französischer Siedler, die hier seit zwanzig oder dreißig Jahren lebten. Ihre Anpflanzungen zogen sich auf dem sanft abfallenden Gelände bis zum Horizont hin. Die meisten von ihnen kamen aus Algerien, und die Behörden hatten ihnen die besten Böden und größten Flächen zugesprochen. Amine streckte einen Arm aus und beschirmte mit der anderen Hand seine Augen vor der Mittagssonne, um die weite Ebene zu betrachten, die sich seinem Blick darbot. Mit dem Zeigefinger wies er auf eine Zypressenallee rund um die Ländereien von Roger Mariani, der mit Wein und Schweinezucht ein Vermögen gemacht hatte. Von der Straße aus sah man weder das Gutshaus noch die Morgen voller Weinstöcke. Doch Mathilde konnte sich den Reichtum des Bauern nur zu gut vorstellen, einen Reichtum, der sie mit Hoffnungen für ihre eigene Zukunft erfüllte. Die heitere Schönheit der Landschaft erinnerte sie an eine Radierung über dem Klavier ihres Musiklehrers in Mülhausen. »Das ist in der Toskana, mein Fräulein«, hatte er ihr erklärt. »Vielleicht reisen Sie ja eines Tages nach Italien.«
Der Maulesel blieb stehen und begann am Wegrand zu grasen. Er hatte nicht vor, die mit großen weißen Steinen übersäte Steigung zu erklimmen, die vor ihnen lag. Wütend straffte der Kutscher die Schultern und ließ Flüche und Hiebe auf das Tier niederhageln. Mathilde stiegen Tränen in die Augen. Sie versuchte sich zurückzuhalten, schmiegte sich an ihren Mann, der das ganz und gar unpassend fand.
»Was ist denn los?«, fragte Amine.
»Sag ihm, er soll aufhören, diesen armen Maulesel zu schlagen.«
Mathilde legte dem Zigeuner eine Hand auf die Schulter und sah ihn an wie ein Kind, das einen zornigen Vater besänftigen möchte. Doch der Kutscher schlug nur umso brutaler zu. Er spuckte auf den Boden, hob den Arm und sagte: »Willst du auch die Peitsche spüren?«
Die Stimmung änderte sich ebenso wie die Landschaft. Sie erreichten die Kuppe eines Hügels mit abgewetzten Flanken. Keine Blumen mehr, keine Zypressen, kaum ein paar Olivenbäume, die in dem felsigen Gelände überlebten. Der ganze Hügel vermittelte ein Gefühl von Unfruchtbarkeit. Das hier war nicht mehr die Toskana, dachte Mathilde, das war der Wilde Westen. Sie stiegen vom Karren und gingen zu einem kleinen weißen Gebäude ohne jeden Charme, dessen Dach aus einem ordinären Stück Blech bestand. Das war kein Haus, sondern eine lieblose Folge enger, düsterer und feuchter Räume. Durch das einzige, zum Schutz vor Ungeziefer weit oben in der Mauer angebrachte Fenster, sickerte ein wenig Licht herein. An den Wänden bemerkte Mathilde grünliche Ränder, die die letzten Regenfälle dort hinterlassen hatten. Der alte Pächter lebte allein. Seine Frau war nach Nîmes zurückgekehrt, nachdem sie ein Kind verloren hatte, und er hatte niemals daran gedacht, aus dieser Bleibe einen heimeligen Ort zu machen, der einer Familie Geborgenheit bieten könnte. Trotz der milden Luft erstarrte Mathilde innerlich zu Eis. Die Pläne, die Amine ihr darlegte, erfüllten sie mit Sorge.
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