Nicola Lagioia – Die Stadt der Lebenden
Rezension von Thomas
„Wie, bekokst?“, er klang zornig. „Wie konntest Du so tief sinken?“
In manchen Fällen sind Floskeln hilfreich.
„Papa, ehrlich gesagt bin ich noch tiefer gesunken.“
Jetzt war Valter perplex. Eine allzu arglose Frage lag ihm auf der Zunge: „Was kann schlimmer sein als Kokain?“
„Wir haben jemanden umgebracht.“
Mit diesem Geständnis kam im Frühjahr 2016 eine Tat ans Licht der Öffentlichkeit, die ganz Italien erschütterte und deren Sinnlosigkeit die Menschen auch heute noch fassungslos zurücklässt. Denn im März 2016 wurde Luca Varani von Manuel Foffo und Marco Prato, zwei jungen Männern aus „gutem Hause“ über mehrere Stunden hinweg gequält und zu Tode gefoltert…
Der Journalist Nicola Lagioia begleitete damals diesen Fall und je länger er sich mit dem Geschehen befasste, desto mehr entspann sich ein Gewirr aus Sex, Gewalt, Drogen und Orientierungslosigkeit.
Luca Varani, der aus dem ehemaligen Jugoslawien stammte, wurde als Baby von Silvana und Giorgio Varani adoptiert. Seit er 14 Jahre alt war, war er mit Maria Gaia zusammen. Jeder, der das Paar kannte, erwartete, dass die beiden irgendwann einmal heiraten würden. Er besuchte die Abendschule, machte eine Ausbildung als Automechaniker. Auf Bildern lächelt er immer, manchmal lässt er sich mit einem Kätzchen fotografieren. Doch er hat auch eine dunkle Seite: er verkauft seinen Körper für Geld und Drogen an andere Männer. Das wissen allerdings die wenigsten.
Manuel Foffo ist 29, studiert Jura, was der Wunsch seines Vaters, eines prominenten Restaurantbesitzers war. Er ist mit seinem Leben unzufrieden, nimmt Drogen und lässt sein Studium schleifen. Sein scheinbar übermächtiger Vater erdrückt ihn, hat er das Gefühl. An Silvester 2015 trifft er auf Marco Prato und beginnt mit ihm, obwohl er sich selbst für heterosexuell hält, eine Affäre, die ihn komplett aus der Bahn wirft.
Marco Prato ist ebenfalls 29 Jahre alt. Er ist der Sohn des bekannten Kulturmanagers Ledo Prato und veranstaltet zahlreiche Events in der LGBTQ-Szene Roms, was ihm selbst einen gewissen Bekanntheitsgrad eingebracht hat. Es reizt ihn, heterosexuelle Männer zu verführen. Anfang März 2016 bietet er Luca Varani für die Teilnahme an einer Party 100€. Varani nimmt an. Er wird die „Party“ nicht überleben.
Was bringt zwei bisher unbescholtene Männer dazu, einen bestialischen Mord zu begehen? Wie reagiert das Umfeld, wie die Öffentlichkeit? Und hätte die Tat verhindert werden können, wenn man rechtzeitig gegengesteuert hätte? Oder kam sie aus dem Nichts? Diesen Frage geht Nicola Lagioia nach. Nach zahlreichen Zeitungsartikeln, die er nach der Tat und während des Prozesses veröffentlicht hat, stellt er diese Recherchen nun in einem Buch vor, das bewegt. Dabei ist er nie spekulativ oder sensationsgeil, sondern berichtet im Gegenteil sehr nüchtern über die Tat, die Reaktionen der Verwandten, die Stimmung in der Öffentlichkeit und die Versuche einger Politiker, diese Tat für ihre Agenda auszunutzen. Heraus kommt ein Tatsachenbericht, der schockiert, der weh tut und in seiner Nüchternheit die ganze Brutalität eines unvorstellbaren Verbrechens darstellt…