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Rezension zu
Lincoln im Bardo

Zwischenwelt – George Saunders: Lincoln im Bardo

Von: letteratura
03.06.2018

Der Begriff „Bardo“ stammt aus dem Buddhismus und bezeichnet den Zustand zwischen dem Tod und der Wiedergeburt. Bei George Saunders finden wir uns nicht in einem buddhistischen Weltverständnis wieder, doch seine Geschichte spielt in einem Reich zwischen Leben und Tod. Es ist ein Reich, das nach dem Tod schnell durchschritten werden sollte zu einem endgültigen Zustand, ob dieser nun Himmel oder Hölle entspricht oder etwas ganz anderes darstellt, der Roman gibt hier keine eindeutigen Antworten. Es sind vor allem drei Männer, die sich hier aufhalten und einerseits das, was geschieht, kommentieren, andererseits über sich selbst, ihr Schicksal, ihr Leben sinnieren. Sie stecken fest, sie gehen nicht voran, doch ein Zurück kann es auch nicht geben. Viele andere, die nach ihnen gestorben sind, kommen und gehen. Nur Willie Lincoln, Sohn des derzeitigen Präsidenten und mit 11 Jahren an Typhus gestorben, bleibt. Bleibt „im Bardo“, denn auch wenn man mit dem Romantitel „Lincoln im Bardo“ ganz von selbst den Vater und Präsidenten assoziiert, ist auch der junge Lincoln ein „Lincoln im Bardo“. Der Vater besucht des Nachts den Friedhof, er ist tief getroffen und will seinen Sohn nicht gehen lassen, seinen Tod nicht wahrhaben. Er verspricht ihm, wieder zu kommen. Und so wird Willie zurückgehalten, kann den trauernden Vater nicht verlassen. Drumherum die Stimmen der „Untoten“, der Festsitzenden, die kommentieren, lamentieren, versuchen, zu verstehen, Hoffnung schöpfen, dass es doch nicht nur in die eine Richtung weitergehen könnte, wenn Willie Lincoln doch nicht einfach so ihr Reich durchquert. „Lincoln im Bardo“, der erste Roman George Saunders, der bisher durch Kurzgeschichten auf sich aufmerksam machte, kommt mit allerhand Vorschusslorbeeren nach Deutschland, gewann 2017 den Man Booker Prize und wurde intensiv beworben. Die Erwartungen an den Roman waren also bei mir hoch, auch, wenn ich nicht wusste, wie ich mir die Geschichte vorzustellen hatte, der Plot klang gewagt, doch vielversprechend. „Lincoln im Bardo“ ist ambitioniert, in seiner Form außergewöhnlich – was Saunders hier macht, hätte auch leicht schief gehen können. Ich kann mich kaum erinnern, je etwas Ähnliches gelesen zu haben. Saunders bedient sich einer Art des choralen Erzählens, es sind viele Stimmen, die von den Geschehnissen berichten, sie reden durcheinander, ergänzen und widersprechen sich, sie plappern, lassen aus, deuten an. Wann immer ich lese, dass man einen Roman mit besonderer Konzentration lesen müsse, weil er anspruchsvoll, kompliziert sei, frage ich mich, ob man nicht jeden Roman mit der gleichen Aufmerksamkeit lesen sollte. Doch bei der Lektüre von Saunders’ Roman habe ich mehrfach genau so gedacht. Hier kann einem schnell etwas entgehen, wenn man nur kurz unaufmerksam ist. Saunders lässt also die drei Männer im Bardo hauptsächlich, und nebenbei viele andere sprechen, auch Willie selbst kommt zu Wort, sein Vater allerdings nie. Dadurch ist er, noch mehr als die Gestalten zwischen den Welten, schwer greifbar. Es wird viel über den Präsidenten gesagt, - doch immer von anderen Personen, die sich teils widersprechen. Saunders fügt zeitgenössische Zitate ein und zeigt, wie unterschiedlich die Wahrnehmung auf die gleichen Ereignisse bzw. auf die Person Lincolns war. Und somit auch, dass objektive Geschichtsschreibung nicht immer einfach ist. „Lincoln im Bardo“, hat sich gegen mich gesträubt, sich gewindet, sich fast verweigert, sodass ich die Lektüre manchmal sogar abbrechen wollte. Der Roman ist keiner, in den ich eintauchen, in dem ich mich wohlfühlen kann und gern verweilen möchte. Wir haben miteinander gekämpft. Das liegt nicht nur am ernsten Thema, das im Übrigen auch durch eine gehörige Portion Ironie deutlich abgeschwächt wird. Vielmehr ist es das sprunghafte Erzählen, die fehlende Linearität, die das Buch andererseits zu dem machen, was es ist: Eine außergewöhnliche Lektüre, die ich jedoch eher mit dem Kopf als mit dem Bauch würdigen kann. Man kann den Roman schwerpunktmäßig in seinem historischen Kontext lesen, als Spiegel einer Gesellschaft im Bürgerkrieg, worauf das Feuilleton in einigen Besprechungen hinweist. Sicher lohnt auch die Frage, was das alles mit uns heute zu tun hat. Und natürlich habe ich mich gefragt, für was dieses Zwischenreich steht oder stehen kann. Der Gedanke liegt nahe, dass es etwas damit zu tun hat, Dinge zu beenden, Türe zu schließen, bevor man neue öffnet, aber vielleicht bewege ich mich damit auch endgültig zu weit weg von diesem so ungewöhnlichen und lesenswerten Buch. Letztlich bin ich – obwohl die Lektüre mir viel abverlangt hat und für mich eher Arbeit als Vergnügen war – doch froh, Saunders’ Roman gelesen zu haben. Sein Vorhaben ist ihm gelungen, der Booker Prize verdient. Und vielleicht werde ich „Lincoln im Bardo“ ja irgendwann eine zweite Chance geben und besser durchdringen, was sich diesmal so gehen mich gesträubt hat.

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