Sie haben sich erfolgreich zum "Mein Buchentdecker"-Bereich angemeldet, aber Ihre Anmeldung noch nicht bestätigt. Bitte beachten Sie, dass der E-Mail-Versand bis zu 10 Minuten in Anspruch nehmen kann. Trotzdem keine E-Mail von uns erhalten? Klicken Sie hier, um sich erneut eine E-Mail zusenden zu lassen.

Rezension zu
Die Verwandelten

Sprachlich brillant - darauf einlassen lohnt sich

Von: meinding.blog
12.11.2023

Es ist ein großes Buch, manche würden es vielleicht als Saga bezeichnen. Mindestens 100 Jahre Familiengeschichte stecken auf den 600 Seiten. Es sind fast ausschließlich die Frauen, um die es geht. Es sind viele von ihnen und man kann sehr schnell den Überblick verlieren, weil Ulrike Draesner viel zwischen Zeiten und Orten hin- und herspringt. Deshalb ein Tipp: ganz hinten im Buch findet ihr einen Stammbaum. Falls es ein Durcheinander im Kopf gibt, könnt ihr also – ausnahmsweise – direkt ans Ende springen und ein wenig Ordnung hineinbringen. In diesem Buch lernt ihr sehr viele Frauen kennen, ich möchte euch die drei, die ich für die wichtigsten halte, gerne kurz vorstellen. Da ist zum einen Adele. Sie wurde 1911 geboren, ein richtiges Landmädchen im heutigen Polen. Ihr großer Wunsch ist es zur See zu fahren. Wenn schon nicht als Matrose, dann wenigstens als Koch. Beides zur damaligen Zeit undenkbar, es gab nicht mal eine weibliche Bezeichnung für Menschen, die zur See fahren. Also wird Adele Köchin im Haushalt eines Theaterschauspielers. Der ist verheiratet, hat eine Tochter und leidet unter Depressionen, die ihn an den Rand der Lebensunfähigkeit bringen. Adele kümmert sich um ihn, kann mit seiner Krankheit umgehen, ist sein Rettungsanker, wird aber auch ausgenutzt und schließlich schwanger. Um einen Skandal zu vermeiden, wird Adele in ein Lebensbornheim im tiefsten Bayern gesteckt. In diesen Heimen konnten ledige Frauen, ihre unehelichen Kinder zur Welt bringen, sofern sie und der Erzeuger den arischen Vorstellungen entsprachen. Anschließend wurden die Kinder von regimetreuen Paaren adoptiert. Adele will ihre Tochter nicht dort lassen und nimmt sie mit zurück in das Haus des Schauspielers. Einige Jahre lang lebt Alissa dort als Familienmitglied. Doch die Arbeit und auch die emotionale Belastung wachsen Adele bald über den Kopf. Inzwischen ist der 2. Weltkrieg in vollem Gange. Eines Tages nimmt die Frau des Schauspielers, selbst verzweifelt, überfordert, vielleicht auch eifersüchtig, Alissa und bringt sie zurück in das Lebensbornheim. Man ändert ihr Geburtsdatum, weil jüngere Kinder eine bessere Vermittlungschance haben und findet ein älteres, kinderloses Ehepaar, das das Mädchen zu sich nimmt. Beide sind Natiionalsozialisten und bringen auch jede Menge persönlichen Ballast mit. Alissa wächst bei ihnen auf, ist aber immer eine Suchende. Sie war etwa fünf Jahre alt als sie von ihrer Mutter getrennt wurde und weiß, dass es eine andere Familie und Kontakte nach Polen gibt. Namen, Ereignisse und Verbindungen verblassen aber über die Jahrzehnte immer mehr. Auch sie bekommt später eine Tochter, die sie alleine aufzieht. Mit Kinga kommen wir in der Gegenwart an. Sie ist Anwältin und lebt mit ihrer adoptierten Tochter in Berlin. Ihre Mutter Alissa ist vor kurzem gestorben, sie versucht in einem neuen Job Fuß zu fassen und hat ein wenig den Halt verloren. Beruflich beschäftigt sie sich mit Erben, Leihmutterschaft und schwierigen Familienkonstellationen und hält auch Vorträge darüber. Bei einem dieser Vorträge wird sie in Hamburg von einer Polin angesprochen. Es gibt eine Verbindung zwischen Dorota und Kinga, die beide aber erst nach und nach verstehen. Ich denke, es ist nicht gespoilert, wenn ich sage, dass Dorotas Mutter die Tochter des Schauspielers ist, mit der Kingas Mutter einige Jahre zusammengelebt hat. Dass beide Halbschwestern sind, wird ihnen erst später klar. Kingas Mutter hatte ohne Wissen Kontakt zur polnischen Familie und sich sogar eine Wohnung in Polen gekauft. Jetzt beginnt langsam die Aufarbeitung der Familiengeschichte und der Versuch, sich einander anzunähern. Und alles Weitere müsst ihr selber lesen. Dieses Buch hat mich wirklich beeindruckt. Die Konstruktion mit vielen Rückblenden und Einschüben ist sehr gut gemacht. Alles, was ihr oben zum Inhalt gelesen habt, ist nur ein kleiner Teil des Ganzen und das Verständnis für die Abläufe (und wer wer ist) entwickelt sich erst langsam, so als ob man ein wunderschön verpacktes Geschenk ganz vorsichtig auspacken möchte. Es ist ein Buch, dem man Zeit und Raum geben muss, kein Text zum Nebenbeilesen. Ich musste mich komplett darauf einlassen, dieses Buch mit in die Bahn oder ins Wartezimmer zu nehmen, hätte nicht funktioniert. Die Handlung ist nicht stringent und man kann schnell verloren gehen und den Faden verlieren. Das Hin- und Herspringen von einer Generation zur nächsten von Bayern nach Polen nach Berlin, macht aber auch einen gewissen Reiz aus. Die ungewöhnliche Sprache hat es verdient, viele Sätze mehrfach zu lesen, damit man überhaupt erfassen kann, wie großartig sie formuliert sind. Um mal ein Beispiel zu nennen: Kinga fährt Zug und hängt dabei ihren Gedanken nach. Dabei denkt sie – wie jeder Mensch – nicht von A nach B, sondern schweift ab, ist ganz woanders, beendet ihre Sätze nicht, stellt Fragen, schiebt weitere Überlegungen ein. In der Form habe ich das wahrscheinlich noch nie gelesen und fand es toll. Es wird aber auch viel geschwiegen in diesem Buch, weil die Worte fehlen für die Heimatlosigkeit, für die Suche nach Dingen und Menschen, von denen man gar nicht weiß, dass sie fehlen. Auch die Kluft zwischen Schlesien und Westdeutschland mach Ulrike Draesner über die Sprache deutlich. Sie verwendet viele polnische Begriffe, aber auch deren deutsche Entsprechung, je nachdem, wer gerade im Zentrum der Handlung steht. Es heißt, wenn etwas günstig ist, zum Beispiel nicht, man bekomme es für „einen Appel und ein Ei“, sondern „für eine Wurst und eine Kopeke“. Insgesamt ein sehr interessantes, sprachlich brillantes, teils auch herausforderndes Buch und mal etwas völlig anderes.

Wir stellen nicht sicher, dass Rezensent*innen, welche unsere Produkte auf dieser Website bewerten, unsere Produkte auch tatsächlich gekauft/gelesen haben.