Sie haben sich erfolgreich zum "Mein Buchentdecker"-Bereich angemeldet, aber Ihre Anmeldung noch nicht bestätigt. Bitte beachten Sie, dass der E-Mail-Versand bis zu 10 Minuten in Anspruch nehmen kann. Trotzdem keine E-Mail von uns erhalten? Klicken Sie hier, um sich erneut eine E-Mail zusenden zu lassen.

Rezension zu
Gefährten

Wundersam

Von: Literaturreich
06.08.2023

Die britische Autorin Ali Smith schreibt wundersame, schwebende und ungemein poetische Romane. Mit ihrem Jahreszeiten-Quartett Herbst, Winter, Frühjahr und Sommer hat sie dies mit der Schilderung ganz aktueller Vorgänge in ihrem Heimatland verbunden. „Companion-Piece“ ist nun ihr aktuellster Roman im Original betitelt. Mehrdeutig kann er damit ein „Begleitstück“ zu diesen vier Büchern sein. Im Deutschen musste sich die Übersetzerin Silvia Morawetz auf eine Bedeutung festlegen und wählte für den Text von Ali Smith den Titel Gefährten. Gefährten, das können Menschen sein, die wir schon lange kennen. Es können aber auch Unbekannte sein, die den eigenen Lebensweg ein Stück weit begleiten, im positiven wie im negativen Sinn. Gefährten können aber auch, gerade in Phasen der Einsamkeit, Tiere und auch Dinge werden. Denken wir an das Radio, an den Fernsehapparat, den Computer oder natürlich an Bücher. In einer solchen Zeit der Einsamkeit befindet sich die Hauptfigur und Ich-Erzählerin Sandy Grey und mit ihr Millionen Menschen. Denn Ali Smith lässt Gefährten während der Corona-Pandemie spielen. Die Anfangs- und damit Panikphase ist bereits vorbei, das Leben unter Ausnahmebedingungen hat sich bereits ein wenig eingespielt, es sind genügend Masken vorhanden, Sicherheitsmaßnahmen wurden ergriffen, Beschränkungen erlassen. Eine der wohl am tragischsten, umstrittensten, aber vielleicht auch am notwendigsten war die Beschränkung des Zutritts zu Krankenhäusern. Was in der Zeit der strengsten Auslegung dazu führte, dass Menschen allein sterben mussten, Angehörige nicht zu ihren geliebten Menschen gelassen wurden. Auch Sandy, Mitte 50 und Künstlerin, die Gemälde aus Gedichten schafft, indem sie diese immer wieder übermalt, leidet unter der Ungewissheit, die die Trennung von ihrem Vater bedeutet, der wegen akuter Herzprobleme stationär aufgenommen wurde. Sie darf ihn zwar besuchen, aber nur wenige Stunden in der Woche. Sie macht sich große Sorgen. Zur gleichen Zeit erhält sie einen Anruf von einer ehemaligen Kommilitonin, Martina Ingles, mit der sie nie wirklich viel zu tun hatte, die sich nun aber mit einem Problem an sie, die „Literaturexpertin“ wendet. Martina arbeitet für ein Museum und wurde, als sie ein wertvolles, 500 Jahre altes, kunstvoll geschmiedetes Schloss nach Großbritannien begleitete, am Flughafen festgehalten, da sie zwei Pässe und zwei Staatsangehörigkeiten besitzt. Etwas, dass man augenscheinlich im neuen Brexit-England nicht sehr schätzt. Sieben Stunden in einer engen Zelle festgehalten, meinte sie eine Stimme zu hören, die ihr zuflüsterte: „Curlew oder curfew, du musst dich entscheiden.“ Wieder eine sprachliche Spielerei, die nicht so ohne weiteres ins Deutsche übertragen werden kann. Denn hier ändert nur ein Buchstabe dramatisch die Bedeutung. Im Deutschen ist curlew der Brachvogel – könnte für die Freiheit eines Vogels stehen – und curfew die Sperrstunde – das Eingeschlossensein. Eine Frage, die man sich während der Pandemie ständig stellen musste, die ein Land wie Großbritannien gegenüber der Welt mit dem Brexit und seiner zunehmend restriktiven Flüchtlingspolitik aber bereits entschieden hat: Ihr müsst draußen bleiben. So ist Gefährten von Ali Smith wie schon bereits das Jahreszeiten-Quartett auch eine scharfe Kritik an der Flüchtlingspolitik, an der Abschottung, aber auch an der zunehmenden sozialen Ungleichheit, an Misogynie und Klimapolitik. Das Ganze geschieht aber auf eine leichte, spielerische, sich nicht festlegende, alles in der Schwebe belassende Art. Wer eine stringente Handlung, klare Entwicklungen und Aussagen erwartet, ist bei den Texten von Ali Smith falsch, geht wohlmöglich ratlos aus ihnen hervor. Stattdessen bekommt man witzige Dialoge, Sprachspiele, reichlich intertextuelle Verweise, eine Gedichtanalyse von e.e.cummings und einige herrlich skurrile Vorgänge. Wie beispielsweise den Auftritt der beiden Zwillingstöchter von Martina Ingles, die Sandy die persönliche Veränderung ihrer Mutter vorwerfen, kurzerhand das Haus okkupieren und sie zur Flucht ins zur Zeit leerstehende Haus des Vaters bewegen. Oder die magischen Momente, in denen Sandys Geschichte mit dem zweiten Teil des Romans verwoben wird, der von einer Schmiedin in Pestzeiten handelt, die von ihrem männlichen Umfeld angefeindet, verfolgt, missbraucht wird, und der wohl die geheimnisvolle Stimme im Arrestraum – „curlew oder curfew?“ gehört, die später auch in Sandys Haus auftaucht. Sie ist wohl die Handwerkerin und Schöpferin des antiken Boothby-Schlosses ist, das Martina für das Museum sichern sollte. Aber Ali Smith nimmt uns bei all diesen Dingen nicht an die Hand, sondern lässt uns jede Menge Deutungsmöglichkeiten, balanciert ihre Geschichte in der Schwebe. Das macht diesen so klugen wie warmherzigen Text über den Mensch als Gefährten und die vielen Möglichkeiten des Miteinanderseins, aber auch die Anfeindungen dagegen so offen und anregend.

Wir stellen nicht sicher, dass Rezensent*innen, welche unsere Produkte auf dieser Website bewerten, unsere Produkte auch tatsächlich gekauft/gelesen haben.