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Rezension zu
Gefährten

Ein Meisterwek der gegenwärtigen Geschichtsschreibung

Von: Fraedherike
28.05.2023

"Hat irgendetwas davon überhaupt stattgefunden? Ich hatte keine Ahnung." (S. 96) Lockdown. Die Menschen stehen vor den Fenstern des Krankenhauses, Masken lassen ihre Mimik irrelevant werden. Sandy ist eine von ihnen. Seit einigen Tagen liegt ihr alter Vater im Krankenhaus, sein Leben auf Messers Schneide, nur ist es nicht das Virus, das die Welt zu einer anderen gemacht hat, das ihn hierherbrachte; es ist das Herz, das nicht mehr stark genug ist. Sandy kümmert sich um sein Haus und seinen Hund Shep, doch auch ihr geht es nicht gut. Die Angst um ihren Vater lähmt sie, sogar die Sprache, Wortspiele, ihre treuen Begleiter, können sie nicht von ihrer Sorge ablenken. "Mich kümmerte nicht, welche Jahreszeit es war. Oder welcher Wochentag. Zu der Zeit war für mich alles Mist einer einzigen Mistigkeit. Ich verachtete mich sogar für dieses kleine Wortspiel, auch wenn das nicht meine Art war, denn ich liebte Sprache schon mein Leben lang, sie war bei mir die Hauptperson und ich ihre ewig treue Gefährtin. Doch zu der Zeit konnten sogar Wörter und alles, was sie konnten und nicht konnten, mich mal kreuzweise." (S. 12) Doch dann erhält sie einen unerwarteten Anruf: ihre ehemalige Studienkollegin Martina Pelf, mit der sie zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Kontakt stand, erzählt ihr von einem merkwürdigen Traum. Ein junges Mädchen, eine Bachstelze; sie könne sich nicht erklären, was es damit auf sich habe, doch Sandy, oh Sandy, sie wisse es doch bestimmt. Es ist, als verschiebe sich eine Bewusstseinsachse, entspinnt sich aus diesem Anruf ein verqueres Abhängigkeitsverhältnis, ist es plötzlich nicht nur Martina, sondern ihre ganze Familie, die ihr die Luft zum Atmen nimmt. Währenddessen kämpft ein junges Mädchen, die Hände von Ruß beschmutzt, in einer anderen Zeit um ihr Überleben – und ist der Gegenwart doch näher als gedacht. „Wenn wir Wörtern Lebendigkeit zugestehen, sind Bedeutungen auch lebendig, und wenn Grammatik lebendig ist, sind die Zusammenhänge zwischen alldem ein Antrieb für alles und überhaupt nichts Trennendes. ... Wenn man akzeptiert, dass nichts festgelegt sein muss, wird man beweglicher." (S. 107f) . Wenn man so mag, fasst diese Passage aus Ali Smiths neuem Roman "Gefährten" (in der Übersetzung von Silvia Morawetz) die Besonderheit ihres Schreibens und der Art und Weise, wie ihre Geschichten konstruiert sind, wunderbar zusammen. Sie entledigt sich gestalterischer Konventionen und fordert dazu auf, sich von der Sprache, dem feinen Spiel mit Worten und Bedeutungsebenen, scheinbaren Wahrheiten treiben zu lassen, den Blick zu öffnen. „Gefährten“ steht insofern mit dem Jahreszeiten-Quartett in Verbindung, ist ihr "Companion Piece", als dass es wiederum den Zeitgeist, ja, Themen und Motive aufgreift, die zu den jeweiligen Zeiten „State of the World“ waren: Brexit, Europapolitik, die Flüchtlingskrise, der Klimawandel. Und nun eben: Corona. Pointiert und mit einer gewissen Situationskomik fängt sie diese neue gegenwärtige Realität durch die Augen ihrer Protagonistin ein, und spiegelt damit gleichermaßen die soziale und politische Situation des Landes wider. Unmerklich fließen die scheinbare Wirklichkeit und magischer Realismus ineinander: Ausgehend von dem Anruf und der unmöglichen Traumgeschichte ihrer Bekannten meint Sandy eben jenes Mädchen in ihrem Haus zu sehen, das verwundet bei ihr Schutz sucht; auf ihrer Schulter ein Brachvogel. Sie beginnt an sich und ihrer Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln: "Shep, sagte ich. Ich weiß, Halluzinationen sind eins der Symptome bei dem Virus. Ich bin krank, stimmt's? Ich halluziniere Pelfs. Ich erfinde das Gegenteil von Isolation, damit mir die Isolation nichts ausmacht. Ja?" (S. 167) . Das Gegenteil von Isolation, von Einsamkeit: Gemeinschaft. Gefährten. Sie sind das wiederkehrende Motiv, wärmend und hoffnungsbringend in dieser ungewissen Zeit. So viele Gestalten können sie annehmen, mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt: eine Liedzeile, ein Glauben, ein Haustier. Und für Sandy eben: Sprache. Seit ihrer Kindheit ist sie ihr Zuflucht; fasziniert von den Möglichkeiten, sie wahrzunehmen, zu lesen, ist sie das Zentrum ihrer Arbeit geworden: Anhand von Gedichten malt sie Bilder, legt Schicht um Schicht Wörter übereinander und verbindet sie zu Wort-Bild-Ellipsen. Doch die Gegenwart – in Form von Martinas Kindern, den Pelf-Zwillingen – fordert sie, ganz im Sinne von Smiths Stil, die Gegenwart der Sprache neu zu kennenzulernen, Akronyme, Internetsprache. Schnelllebigkeit. . Einer Collage gleich fügt Smith verschiedene Szenen aus dem Leben der Protagonistin zusammen, beschreibt die Beziehung zu ihrem Vater, ihre Verbindung zur Sprache und zum gegenwärtigen Geschehen, stellt Leben und Tot gegenüber, Tragödie und Farce, Oberfläche und Tiefe (oh, diese sprachlichen Easter Eggs!). Und dann: CUT. Zeitenwechsel, aus Curfew wird Curlew. Die Unterschiede, die ein Buchstabe ausmachen kann. Unterdrückung und Tod im sechzehnten Jahrhundert: eine junge Frau, die die Schmiedekunst lernt, dem Tode geweiht und entkommen, ihrem Gefährten, dem Brachvogel immer nahe.

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