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Rezension zu
Zur See

Inselleben und See-Weh

Von: Literaturreich
06.04.2023

Die See ist für Millionen Menschen Sehnsuchtsort und Ausflugsziel. Was das mit der Landschaft, den dort lebenden Menschen und deren Traditionen macht, daran nähert sich die Bestsellerautorin Dörte Hansen mit ihrem neuen Roman Zur See auf so tiefgründige wie unterhaltsame Weise. „Alle Inseln ziehen Menschen an, die Wunden haben, Ausschläge auf Haut und Seele. die nicht mehr richtig atmen können oder nicht mehr glauben, die verlassen wurden oder jemanden verlassen haben. Und die See soll es dann richten, und der Wind soll pusten, bis es nicht mehr wehtut.“ Dörte Hansen ist ein Phänomen. Ihre in der norddeutschen Provinz spielenden Romane begeistern die Literaturkritik genauso wie das breite Publikum. Auf den Bestsellerlisten ist sie Stammgast. Ihr neuester Roman führt auf eine nicht benannte Nordseeinsel und erzählt in diesem Mikrokosmos von unvergesslichen Charakteren und von universellen Dingen wie Familie, Einsamkeit, Sehnsucht und Verbundenheit. Die alteingesessene Familie Sander blickt auf 300 Jahre Kapitänstradition zurück. Die Vorfahren waren Grönlandfahrer und Walfänger, das schönste und prächtigste Inselhaus ist das ihre. Doch schon lange leben auf der Insel nur noch die Drenthe-Brüder vom Fischfang. Fangquoten, Überfischung und durch den Klimawandel zurückgehende Fischbestände verringern den Ertrag, Umsatz wird heute mit dem Tourismus gemacht. Auch Kapitän Jens Sander hat früh abgemustert und sich vor zwanzig Jahren als Vogelwart in eine einsame Stelzenhütte in der Wattlandschaft zurückgezogen. Als Familienvater und Ehemann ist er dadurch so abwesend wie zuvor als Seemann. Sein ältester Sohn Ryckmer, der seinerseits als Kapitän mit einer Riesenwelle, einer „weißen Wand“ konfrontiert war und dabei ein Besatzungsmitglied verlor, muss wegen Panikattacken den Dienst quittieren und hat Alkoholprobleme, die nun auch seinen Job als Deckmann auf der Inselfähre gefährden. Mit 40 lebt er wieder bei Mutter Hanne, deren Zimmervermietung auch nicht mehr läuft, seitdem die vom See-Weh befallenen Kurzzeit-Urlauber lieber die modernen Apartments im Wellnesshotel buchen. Oder für ihren Inseltraum gleich die schönsten Inselhäuser wegkaufen. "Ein Haus am Meer gekauft. Das Luftschloss festgemacht mit Backstein, Rosenhecke und Alarmanlage. Und dann ernüchtert festgestellt, dass es nicht schwebt." Tochter Eske arbeitet im Insel-Altersheim und reagiert ihren Frust mit ohrenbetäubender Heavy-Metal-Musik ab. Der jüngste Sander-Sohn Henrik schließlich verdingt sich auf der Insel als Strandgut-Künstler. Die wohlhabenden Wochenend- und Sommerhausbesitzer zahlen gerne jeden Preis für ein Stückchen Authentizität. Ihre Verklärung von allem was mit dem Meer und dem Leben an der See zu tun hat, verwundert die Inselbewohner. Ist für sie das Meer auch immer eine Urgewalt, unberechenbar und gefährlich. „Er kann, wie eine lange, schreckliche Ballade, alle schweren Nordseefluten der vergangenen tausend Jahre aufsagen. Er kennt die Namen aller Orte, die die See zerrissen und verschlungen hat.“ Schon lange hat der Strukturwandel auf der Insel auch einen Kulturwandel nach sich gezogen. Die einst mit Familienanschluss untergebrachten „Badegäste“ sind längst zu Touristen geworden, die sich um alte Traditionen wenig scheren. Dem Verlust von Althergebrachtem stehen die Inselbewohner ein wenig hilflos und unsicher gegenüber. Das wird in der zentralen Stelle des Buchs besonders deutlich, als ein Pottwal strandet und auswärtige Spezialisten auf die Insel der Walfänger gerufen werden müssen, weil niemand mehr weiß, wie man damit umgehen soll. Zur See ist melancholischer als die vorherigen Bücher Dörte Hansens, auch wenn immer wieder ihr milder Spott aufblitzt. Die meisten ihrer liebevoll gezeichneten Charaktere sind schrecklich einsam und reden wenig. „Sie hütet sich davor, den Dingen auf den Grund zu sehen. Was sie da unten finden könnte, will sie gar nicht sehen. Man darf nicht jede Frage endlos weiterdenken und an allem ewig kratzen oder schürfen.“ Auch der Inselpastor, der nach zwanzig Dienstjahren nicht mehr spazieren geht, sondern joggt, weil er so nicht mehr in Unterhaltungen hineingezogen wird, und von dem sich die Frau trennt, weil sie das Inselleben nicht mehr aushält. Die Unfähigkeit, miteinander zu reden, einander zuzuhören und sich zu verstehen wird am Ende auf dramatische Weise deutlich. Das vorangestellte Gedicht der britischen Lyrikerin Stevie Smith nimmt das vorweg: „Not waving, but drowning“. So tragisch das Geschehen in Zur See zum Teil auch ist, es wird nie melodramatisch. Das würde auch zu den leicht knorrigen, störrischen Inselbewohner*innen nicht recht passen. Sie in ihrer Komplexität zu schildern, gelingt Dörte Hansen durch wechselnde, oft auch divergierende Erzählperspektiven. Sie erzählt ruhig und gelassen, eindringlich und atmosphärisch dicht. Die Sprache ist höchst musikalisch. Kleine Referenzen zu Klassikern wie Theodor Storm oder Herman Melville baut sie unaufdringlich ein. So ist ihr wieder ein ganz wunderbares, zutiefst menschliches Buch gelungen, das viele begeisterte Leser*innen finden wird.

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