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Rezension zu
Wir, die Überlebenden

Heute in Asien

Von: Myriade
09.02.2023

Zunächst musste ich mich orientieren. Einmal geografisch und dann allgemein über Malaysia und seine Gesellschaft. Dabei habe ich bei Diwan, das Büchermagazin von Bayern 2 ein Interview mit dem Autor gefunden, von dem ich hier einen kleinen Teil wiedergeben möchte. Wir alle – im Westen wie auch in Asien – lieben es so sehr, an die große Illusion vom Wohlstand zu glauben. Wir sind auf gewisse Weise besessen von der Vorstellung eines glitzernden Asiens: Binnen kürzester Zeit sind Entwicklungsländer zu hochmodernen Staaten geworden. Und ich wollte die Realität zeigen: Für 95 Prozent der Menschen trifft das nicht zu. Die Kosten dieser Entwicklung sind offensichtlich: die Natur wird zerstört. Ebenso gründen die asiatischen Wirtschaften darauf, umgehend den Konsumbedarf westlicher Kunden zu befriedigen. Die Meerestierfarmen, die Plastik-Produktion – alles dient den Verbrauchern in der westlichen Welt. Die wenigsten sehen diese Zusammenhänge.(…) Und auch die Menschen in Asien wollen das nicht wahrhaben. Denn wenn wir sagen, dass stimmt, müssen wir eingestehen, dass wir so viel geopfert haben. Aber für was? Das gilt auch mit Blick auf politische Fragen. Die Menschen haben auf so viele politische Rechte verzichtet – das Recht zu protestieren, das Recht frei zu wählen, das Recht auf gleichberechtigte Lebensumstände. Man hat ihnen erzählt: „Ihr könnt nicht beides haben – Geld und soziale Gleichheit. Das geht nur eines nach dem anderen.“ Fragt man arme Menschen, was ihnen wichtiger ist, dann wählen sie die materiellen Annehmlichkeiten: einen sicheren Job, die Aussicht auf Geld und auch auf Weiterbildung. Aber in einer langen Perspektive brauchen sie auch die Möglichkeit, eine Wahl zu haben, politisch und persönlich. Diwan, das Büchermagazin von Bayern 2 Tash Aw erzählt die Lebensgeschichte von Ah Hock, einem chinesischstämmigen Malaien aus einem Fischerdorf, in das die Generation seiner Großeltern aus China eingewandert ist. Er schlägt sich mit verschiedensten Jobs mehr schlecht als recht durch in einer armen Gesellschaftsschicht, die ein paar Zentimeter über den Gruppen von Wanderarbeitern und Einwanderern aus China, Indien, Bangladesh und anderswo liegt. Einer seiner Kindheitsfreunde, mit dem er als junger Mann nach Kuala Lumpur gegangen ist, nimmt den Weg in die Kleinkriminalität, bleibt aber nur Handlanger mit einem Fuss in der Armut, mit dem anderen im Gefängnis. Ah Hock selbst hangelt sich von einem schlechten Job zum nächsten. Auf einer Fischfarm findet er ein relativ gutes Auskommen, heiratet eine Frau, die Geschäfte mit Kosmetikprodukten betreibt, führt ein gutes Leben. Die Fischfarm auf der Ah Hock so etwas wie ein Verwalter ist, läuft gut. Der Besitzer verreist und überlässt Ah Hock die Aufsicht. Das Unglück nimmt seinen Lauf: zuerst einige, dann alle Farmarbeiter, die in allzu engen, allzu unhygienischen Verhältnissen hausen, erkranken an Cholera und können nicht mehr arbeiten. Ah Hock sucht verzweifelt nach anderen Arbeitern, die er um möglichst wenig Lohn beschäftigen könnte. Er wendet sich an seinen ehemaligen Freund, mit dem er eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte, der ihm sofortige Hilfe verspricht und ihn mit Leuten bekannt macht, die Geschäfte machen, die man gut Menschenhandel nennen könnte. Die Schilderung der verflochtenen Bereiche der Ausbeutung ist sehr aufschlussreich. Immer wieder fasst Ah Hock Hoffnung nun doch Arbeiter zu finden, fährt über verschlungene Dschungelpfade und verlassene Elendscamps, aber immer wieder erweisen sich die Verbindungen seines Freunds nicht nur als kriminell sondern auch als völlig unzuverlässig. Ah Hocks Verzweiflung wird immer größer, denn an dem Auftreiben von Arbeitern hängt seine eigene Existenz. Das erfolglose Irren durch die Vororte Kuala Lumpurs von einem Verbindungsmann zum nächsten, endet schließlich damit, dass Ah Hock einen Mord begeht. Eine kleine Kostprobe: „Ich weiß nicht mehr, wann ich damals begann, Formen und Muster zu erkennen, die noch kurz zuvor von der Dunkelheit verschluckt gewesen waren. Keongs Gesicht war vor Wut verzerrt, tiefe Furchen umgaben Mund und Augen. Wie er gealtert war. Und ich hörte auch jedes Geräusch – ihre unterschiedliche Art zu atmen: Keong kurz, schwer, am Ende der Sätze nach Luft schnappend oder nach einem Fluch drei-, viermal hintereinander heftig keuchend. Ashadul dagegen langsam und röchelnd, als wäre seine Lunge mit einer Schicht von Teer und Schleim belegt. Der typische Raucherhusten, der seiner Brust entstieg. Die ausdruckslose Stimme als Gegenstück zu Keongs Hysterie. Das alles nahm ich klar und deutlich wahr.“ S396 Der Autor, Tash Aw wurde als Kind malaysischer Eltern 1971 in Taiwan geboren und wuchs in Kuala Lumpur auf. Er studierte Jura in Großbritannien, veröffentlichte mehrere Romane und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Commonwealth Writers’ Prize und dem Whitbread First Novel Award, und zweimal für den Man Booker Prize nominiert. Sein Werk ist in 23 Sprachen übersetzt. Tash Aw lebt vorwiegend in der Provence und kommentiert u. a. für die »New York Times« und die BBC Kultur und Politik im südostasiatischen Raum. Interessant an dem Buch fand auch auch seinen zeitlichen Aufbau. Die Erzählung – in Rückblenden – beginnt zu dem Zeitpunkt als Ah Hock seine Haftstrafe beendet hat. Er erzählt seine Geschichte nicht den Leser*innen sondern der Soziologin Su-Min, die ein Buch über ihn schreiben möchte. „Mir ist klar, dass ich mich mehr zusammennehmen und eine nette Geschichte erzählen sollte, aber am Ende tue ich genau das Gegenteil. Ich erzähle ihr jedes einzelne schreckliche Detail, ich kann mich einfach nicht beherrschen. Halt dich zurück, halt dich zurück sage ich mir, aber dann platzt alles aus mir heraus, in einem gewaltigen Wortschwall. (…)Als ich ihr heute die Geschichte von den Arbeitern aus Bangladesh erzählte, hatte ich sie mir zuvor genau zurechtgelegt. Es war eine sehr harte Reise gewesen, Menschen waren gestorben. Trotzdem erzählte ich ihr dann genau das, was ich von dem ausländischen Hilfsarbeiter erfuhr, den ich getroffen hatte. Wie die Menschenschmuggler *) seiner toten Frau den Bauch aufschlitzten, damit die Leiche sich nicht aufblähte wie ein Ballon und auf dem Wasser trieb, nachdem sie sie über Bord geworfen hatten. Von den Migranten, die völlig entkräftet waren und trotzdem Gräber ausheben mussten.Ihre eigenen Gräber. Damit die Schmuggler sie hineinwerfen konnten, wenn sie am Ende starben. Keine Kraft mehr, um zu kämpfen, nur noch, um zu sterben. Von Menschen die zusehen mussten, wie sie Wundbrand bekamen, und das Gefühl hatten, dass ein Tier an ihren Beinen nagte.“ S 381 *) „Menschenschmuggler“ wäre meiner Meinung nach mit „Schlepper“ besser übersetzt. Das Buch endet mit der Party aus Anlass der Veröffentlichung des Buchs. Was danach aus dem Protagonisten wird, erfahren wir nicht. Die Beschreibung wird ein bisschen lang, aber ich fand die Überlegungen von Tash Aw zum Thema Literatur so interessant, dass sie hier noch hineinmüssen. Die Kraft der Literatur besteht aus meiner Sicht darin, dass sie uns dazu bringt, uns mit Menschenleben auseinanderzusetzen, von denen wir sonst nichts wissen würden. Die Literatur beschäftigt uns, in dem Sinn, dass es ungemütlich wird, dass wir Dinge akzeptieren müssen, die nicht angenehm sind. In vielen Fällen ist es vorhersehbar, warum wir uns mit Literatur beschäftigen. Die meisten Menschen lesen von Schicksalen, die im Grunde ihre eigenen sind. Und das auf eine Weise, bei der wir uns wohlfühlen. Der größte Teil der Literatur ist eine Selbstreflexion von Angehörigen der Mittelklassen. Wir wollen uns gut fühlen. Und die Literatur scheint das zu ermöglichen. Ich habe ein anderes Verständnis. Die Schriftsteller, die ich schätze, haben uns in die Lage gebracht, dass es unangenehm wird. Sie haben uns mit Dingen konfrontiert, die wir ablehnen. Wenn Menschen in Europa über Asien nachdenken, wollen sie ermutigt werden – sie wollen tröstliche Visionen lesen, sich erfreuen an der Güte, an der Exotik und an der Schönheit Asiens. Manchmal wollen sie auch von der Armut erfahren – aber auf eine Weise, die nicht wehtut. Ich will die Realität zeigen. Nicht nur für die Menschen im Westen, sondern ebenso für die in Asien. Sie sollen in die Lage kommen, über ihr Leben nachzudenken Diwan, das Büchermagazin von Bayern 2 Dass es eine gute Idee ist, die Veröffentlichungen des Luchterhand Verlags im Auge zu behalten, habe ich ja schon oft geschrieben.

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