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Rezension zu
Schlesenburg

Ein großes Highlight voll bittersüßer und wohliger Momente

Von: Fraedherike
07.01.2023

„Allen Großen und Alten in der Schlesenburg war der Verlust eine tröstende Gemeinsamkeit. Wir anderen aber waren Keimlinge. Fortgetragen und in frische, aber fremde Erde gesetzt, die kein Gedächtnis hatte. Was uns verband, war allenfalls die Tatsache, dass jede Sehnsucht genau genommen eine Lüge war. Es gab keine klar sichtbare Lücke in mir, keinen Mangel, keine Mulde, nichts. Nur dieses wabernde diffuse Gefühl, dass etwas fehlte. Mein Sehnsuchtsort war keine Erinnerung, der ich hinterherjagen konnte, er war eine Projektion, eine Nacherzählung.“ (S. 136) Eigentlich war alles wie immer in der Schlesenburg. Seit Papa die Wohnung gefunden hat, wir aus dem Asylbewerberheim ausziehen durften, leben wir hier in der Siedlung, am Stadtrand von Mainz. Nebst anderen Flüchtlingen aus Polen. Flüchtlinge… Ich verstehe das alles nicht, das Fliehen, die Angst. Ich bin doch hier geboren. Draußen sitzen die Baranowski-Zwillinge auf der Bank und kauen auf ihren Brotkrumen, machen blöde Sprüche. Niemand konnte sie leiden, die beiden. Mama liegt auf dem Balkon und liest ihre Konsalik-Romane, auch wenn sie ihr peinlich waren. Papa hat eine Leidenschaft für Dosenfleisch entwickelt, überall steht es herum: auf dem Kühlschrank, im Kühlschrank, unter der Bank in der Küche; jedem, der vorbeikommt, schenkt er eine Konservendose. Aber irgendwas liegt in der Luft. Stadtrandangstluft. Brandgeruch. In diesem Sommer würde sich alles ändern, das wurde mir allmählich bewusst. Weil Darius plötzlich weg war. Weil Papa immer wieder versucht, heimlich in die ausgebrannte Wohnung zu steigen. Weil Mama ihre steinglatte Stirn, ihr Gesicht verliert und weint, wenn sie sich unbeobachtet fühlt. Weil dieses Mädchen auf einmal da war. Und dann... "Nur wenn sie weinte, war Mutter macht- und wehrlos. Dann kroch sie wie ein verletztes Tier in eine Nische und heulte sich leise ein. Meist neben den kleinen Schrank im Flur. Dort hockte sie, weinte erst und grämte sich dann, weil es etwas in ihr gab, das sie nicht bändigen konnte. Heimweh." (S. 43) Gerade blätterte ich wiedermals durch die Seiten. Die Eselsohren hatten den Buchschnitt unregelmäßig werden lassen; Zeichen meiner Lesegefühle: Freude über Sprache und Gedanken, die mich innehalten ließen, die Bilder abseits der Geschichte hervorriefen. Die, auch Wochen, Monate später gelesen, noch genau den Moment lebendig werden lassen, als ich zuletzt das Buch in der Hand hielt. Liebevoll und wehmütig erzählt Paul Bokowski in seinem Romandebüt "Schlesenburg" von dem Leben eines Jungen, der gemeinsam mit seinen Eltern, die, als er noch nicht geboren war, aus dem ehemaligen Schlesien nach Deutschland flohen. Einer großen, familiären Gemeinschaft gleich, treten immer mehr Bewohner*innen der Siedlung am Ende des Breslauer Rings ins Blickfeld. Sie alle tragen eine Geschichte in sich, die sie miteinander verbindet, so unterschiedlich sie nach außen hin sein mögen. Und immer wieder erregen sie die Aufmerksamkeit des Jungen: Hibbelig ist er, hin und her springen seine Gedanken und so auch die Erinnerungsfetzen, die er Ästen, sich immer kleiner, weiter auffächernden Zweigen und Blattknospen gleich entlang des Baumstamms, der den tragenden Erzählstrang bildet, entwachsen lässt. Es sind Erinnerungen an das Heimweh und den tiefen Schmerz seiner Eltern und wie es sich in ihrem ihm unerklärlichen Verhalten manifestiert, sichtbar in abgegriffenen Bildern und aufgeregten polnischen Floskeln; an sein "Anderssein", ihn, der er mit fünf Jahren bereits Nachbarn behördliche Briefe vorlesen muss; an seine Freunde Darius und Kuba; an Apollonia, die Licht brachte. An Heimatlosigkeit in der eigentlichen Heimat, Wurzelsuche. Es hat mir gefallen, die Bokowski nach und nach die kleine Welt am Stadtrand immer größer werden lässt, um Menschen, Schicksale und Orte reicher macht. Mit feiner Beobachtungsgabe für die Eigenheiten seiner Protagonisten und einem bemerkenswerten Gefühl für leise und laute Momente sowie das Sichtbarmachen von inneren Kämpfen erzeugt er eine gleichermaßen wärmende wie beklemmende Atmosphäre, lässt doch aber auch immer wieder subtilen Humor durchblitzen. Ein Schmunzeln mit sanften Augen. Es war nicht immer einfach, den springenden Gedanken zu folgen, doch dieser Herausforderung habe ich mich gerne gestellt - und wurde umso reicher beschenkt. Auch wenn sich die Erzählung phasenweise ein wenig zog, in meinen Augen den Fokus verlor, aber das sei nur eine Randnotiz. Der naive, unverständliche Blick durch Kinderaugen sieht manchmal doch eine klarere Sprache, als Erwachsene sie zu sehen vermögen wollen. Ein ergreifender, herbsüßer Roman, der unter die Haut geht.

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