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Rezensionen zu
Schlesenburg

Paul Bokowski

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€ 22,00 [D] inkl. MwSt. | € 22,70 [A] | CHF 30,50* (* empf. VK-Preis)

In diesem autofiktionalen Roman nimmt uns der Autor mit in seine Kindheit in Mainz. Seine Eltern flüchteten von Polen nach Deutschland, als die Mutter mit ihm schwanger war. Nach einigen Monaten in einer Flüchtlingsunterkunft siedelt die Familie in eine Sozialbausiedlung um, in der fast ausschließlich polnische Menschen leben. Er berichtet sehr intensiv und anschaulich von den Widersprüchen zwischen Zusammenhalt und Ausgrenzung, von großen Träumen und herben Enttäuschungen. Mir hat dieses Buch sehr gut gefallen - es hat mich berührt, meinen Horizont erweitert und zum Nachdenken gebracht. Toll fand ich auch, dass der Autor ganz ohne Pathos Gefühle zum Ausdruck brachte und auch der Humor nicht zu kurz kam, so dass die Geschichte nicht zu viel Schwere bekam. Auch aus heutiger Sicht ein spannender Blick auf durch Ghettoisierung erzeugte Parallelgesellschaften, die oft eine ganz eigene Dynamik entwickeln. Ein hochinteressantes, gut lesbares und sehr persönliches Buch mit Tiefgang, das ich euch ans Herz lege!

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„Allen Großen und Alten in der Schlesenburg war der Verlust eine tröstende Gemeinsamkeit. Wir anderen aber waren Keimlinge. Fortgetragen und in frische, aber fremde Erde gesetzt, die kein Gedächtnis hatte. Was uns verband, war allenfalls die Tatsache, dass jede Sehnsucht genau genommen eine Lüge war. Es gab keine klar sichtbare Lücke in mir, keinen Mangel, keine Mulde, nichts. Nur dieses wabernde diffuse Gefühl, dass etwas fehlte. Mein Sehnsuchtsort war keine Erinnerung, der ich hinterherjagen konnte, er war eine Projektion, eine Nacherzählung.“ (S. 136) Eigentlich war alles wie immer in der Schlesenburg. Seit Papa die Wohnung gefunden hat, wir aus dem Asylbewerberheim ausziehen durften, leben wir hier in der Siedlung, am Stadtrand von Mainz. Nebst anderen Flüchtlingen aus Polen. Flüchtlinge… Ich verstehe das alles nicht, das Fliehen, die Angst. Ich bin doch hier geboren. Draußen sitzen die Baranowski-Zwillinge auf der Bank und kauen auf ihren Brotkrumen, machen blöde Sprüche. Niemand konnte sie leiden, die beiden. Mama liegt auf dem Balkon und liest ihre Konsalik-Romane, auch wenn sie ihr peinlich waren. Papa hat eine Leidenschaft für Dosenfleisch entwickelt, überall steht es herum: auf dem Kühlschrank, im Kühlschrank, unter der Bank in der Küche; jedem, der vorbeikommt, schenkt er eine Konservendose. Aber irgendwas liegt in der Luft. Stadtrandangstluft. Brandgeruch. In diesem Sommer würde sich alles ändern, das wurde mir allmählich bewusst. Weil Darius plötzlich weg war. Weil Papa immer wieder versucht, heimlich in die ausgebrannte Wohnung zu steigen. Weil Mama ihre steinglatte Stirn, ihr Gesicht verliert und weint, wenn sie sich unbeobachtet fühlt. Weil dieses Mädchen auf einmal da war. Und dann... "Nur wenn sie weinte, war Mutter macht- und wehrlos. Dann kroch sie wie ein verletztes Tier in eine Nische und heulte sich leise ein. Meist neben den kleinen Schrank im Flur. Dort hockte sie, weinte erst und grämte sich dann, weil es etwas in ihr gab, das sie nicht bändigen konnte. Heimweh." (S. 43) Gerade blätterte ich wiedermals durch die Seiten. Die Eselsohren hatten den Buchschnitt unregelmäßig werden lassen; Zeichen meiner Lesegefühle: Freude über Sprache und Gedanken, die mich innehalten ließen, die Bilder abseits der Geschichte hervorriefen. Die, auch Wochen, Monate später gelesen, noch genau den Moment lebendig werden lassen, als ich zuletzt das Buch in der Hand hielt. Liebevoll und wehmütig erzählt Paul Bokowski in seinem Romandebüt "Schlesenburg" von dem Leben eines Jungen, der gemeinsam mit seinen Eltern, die, als er noch nicht geboren war, aus dem ehemaligen Schlesien nach Deutschland flohen. Einer großen, familiären Gemeinschaft gleich, treten immer mehr Bewohner*innen der Siedlung am Ende des Breslauer Rings ins Blickfeld. Sie alle tragen eine Geschichte in sich, die sie miteinander verbindet, so unterschiedlich sie nach außen hin sein mögen. Und immer wieder erregen sie die Aufmerksamkeit des Jungen: Hibbelig ist er, hin und her springen seine Gedanken und so auch die Erinnerungsfetzen, die er Ästen, sich immer kleiner, weiter auffächernden Zweigen und Blattknospen gleich entlang des Baumstamms, der den tragenden Erzählstrang bildet, entwachsen lässt. Es sind Erinnerungen an das Heimweh und den tiefen Schmerz seiner Eltern und wie es sich in ihrem ihm unerklärlichen Verhalten manifestiert, sichtbar in abgegriffenen Bildern und aufgeregten polnischen Floskeln; an sein "Anderssein", ihn, der er mit fünf Jahren bereits Nachbarn behördliche Briefe vorlesen muss; an seine Freunde Darius und Kuba; an Apollonia, die Licht brachte. An Heimatlosigkeit in der eigentlichen Heimat, Wurzelsuche. Es hat mir gefallen, die Bokowski nach und nach die kleine Welt am Stadtrand immer größer werden lässt, um Menschen, Schicksale und Orte reicher macht. Mit feiner Beobachtungsgabe für die Eigenheiten seiner Protagonisten und einem bemerkenswerten Gefühl für leise und laute Momente sowie das Sichtbarmachen von inneren Kämpfen erzeugt er eine gleichermaßen wärmende wie beklemmende Atmosphäre, lässt doch aber auch immer wieder subtilen Humor durchblitzen. Ein Schmunzeln mit sanften Augen. Es war nicht immer einfach, den springenden Gedanken zu folgen, doch dieser Herausforderung habe ich mich gerne gestellt - und wurde umso reicher beschenkt. Auch wenn sich die Erzählung phasenweise ein wenig zog, in meinen Augen den Fokus verlor, aber das sei nur eine Randnotiz. Der naive, unverständliche Blick durch Kinderaugen sieht manchmal doch eine klarere Sprache, als Erwachsene sie zu sehen vermögen wollen. Ein ergreifender, herbsüßer Roman, der unter die Haut geht.

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Worum geht´s? Die Schlesenburg ist eine Auffangstation für Gestrandete in Westdeutschland Anfang der 80er Jahre. Eine Plattenbausiedlung, in der die polnischen Geflüchteten unter sich sind und damit hadern, ihre polnischen Wurzeln auszumerzen, um gänzlich deutsch zu werden und das höchste Maß an Anpassungsfähigkeit an den Tag zu legen. Als sich plötzlich Rumänen und Russlanddeutsche in der Siedlung breit machen, schwebt Unmut und Abscheu durch die Burg… Meine Meinung: Tatsächlich hatte ich eindeutig andere Erwartungen an die Geschichte, jedoch bin ich mit der vorliegenden nicht enttäuscht worden. Fast collagenartig schildert das Kind der polnischen Einwanderer von seiner Kindheit in der Schlesenburg, schweift ab, setzt an anderen Stellen wieder an und zieht letztlich doch seinen Kreis zum Kern der Geschichte. Die Handlung, das Erlebte, verläuft ruhig und ohne große Aufregung, was nicht bedeutet, dass dieses Buch kein Zeugnis von Missständen und den harten Umständen des Lebens der Bewohner ist. Neben Anekdoten zur Flucht und zum Leben in der Burg, erfährt man das grundlegende Gefühl von Zerrissenheit der Menschen hier. Sie vermissen ihre Familienangehörigen, die in Polen zurückbleiben, sie vermissen ihre Sprache, ihre Lebensart. Denn all das wird unterdrückt, um nicht aufzufallen, um mitzuschwimmen und in jedem Fall wenigstens besser deutsch zu sprechen als die türkischen Migranten. Die Arbeit in den Fabriken und Werkstätten ist mühsam und eintönig und dennoch schätzen die Bewohner der Burg sich als glücklich, endlich im Land des Wohlstands angekommen zu sein. Ich mochte das Buch, auch wenn ich mich zwischendurch mit dem Schreibstil doch etwas schwer tat. Ich empfehle hier einen Blick in die Leseprobe, denn die Zerrissenheit spiegelt sich hier definitiv im Schreibstil wider. Die sprachlichen Bilder und der gesellschaftliche Blick eines Kindes überzeugte mich hingegen. Fazit: Leseempfehlung, wenn der Blick in die Leseprobe den Schreibstil als angenehm bewertet. Ein tolles Buch über die Zerrissenheit von flüchtenden Familien! Unfassbar wichtig.

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Wie ist das eigentlich wenn man in einem Land aufwächst, das den Eltern - noch - fremd ist, man selber aber nie etwas anderes kennengelernt hat? Paul Bokowski entführt uns in seinem Romandebüt in die "Schlesenburg". Eine makellose Wohnbausiedling. Ein blütenweißer Sozialbaukomplex in der BRD. Hier wohnen sie in den 1980er-Jahren dicht zusammen. Familien, geflüchtet aus ihrem Heimatland Polen. Und hier wächst er auf. Der namenlose Ich-Erzähler. Zwischen dem Flüchtlingsheim, in dem er die ersten beiden Jahre seines Lebens verbracht hat, zwischen der Papierfabrik, in der seine Eltern arbeiten und zwischen dem Schwimmbad, in dem er die Sommerferien mit seinen Freunden aus der Siedlung verbringt. Er erzählt, wie Frau Galówka bei einem Brand in der Nummer 11 ums Leben kommt und wie sein Freund Darius aus der Nummer 15 plötzlich verschwindet. Er erzählt von der einzigen türkischen Familie im Haus und dessen Sohn Serkan und von Apolonia, dem Mädchen, das ohne Vater aufwächst und welches so ganz anders ist. So frech, mutig und direkt. Und auch seine Eltern kommen zu Wort. Längst die Schlesenburg verlassen und in einem cremefarbenen Reihenhaus im übernächsten Ort ein neues Zuhause gefunden, erzählen sie von der nicht ungefährlichen Flucht von Polen in die BRD und wie sie auch die Flucht von Onkel Staszek planten. Sehr detailreich und in einer unglaublich dichten Sprache zeichnet Bukowski sowohl die vielen Episoden, als auch die - teilweise skurrilen - Figuren. Dabei springt er in der Zeit immer wieder vor und zurück, was mir persönlich sehr gut gefallen hat. Und auch wenn diese Geschichte mit viel Humor erzählt wird, so schwingt doch auch ganz viel Traurigkeit mit. Mir hat sie ausgesprochen gut gefallen.

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Bewegende Erinnerungen

Von: Buechermango

09.10.2022

Nachdem ich ein großer Fan der Kurzgeschichten von Paul Bokowski war, habe ich mich unheimlich auf seinen ersten Roman gefreut. Sein großartiger Humor prägt auch Schlesenburg, die Geschichte geht aber viel mehr in die Tiefe, als wir es von ihm kennen und hat mich wirklich beeindruckt. “Schlesenburg wurde sie genannt, unsere Siedlung am Stadtrand, in der im Sommer 89 die Wohnung der Galówka brannte. Sechzig Familien waren wir, fast allesamt aus Polen.” Paul Bokowski bietet hier eine einzigartige, wertvolle Perspektive. Ein Kindheit, geprägt durch die Flucht der Eltern. Ein Kind, das nie polnisch gelernt, dafür aber Traumata vererbt bekommen hat. Eine Kindheit an einem besonderen Ort, umgeben von einzigartigen Menschen. Ich muss sagen, dass ich am Anfang meine Probleme mit dem Buch hatte und nicht so gut rein kam und zwischendurch fast schon gelangweilt war. Wir bekommen hier eine sehr ruhige Geschichte, die immer wieder hin und her springt. Sie entwickelt sich langsam, nimmt einige Abbiegungen und am Ende wusste ich gar nicht mehr genau, was da gerade passiert ist. Nur, dass ich mehr wollte. “Mutter vermisste ihre Eltern, Vater, etwas stiller, seinen Bruder, aber die meisten Kinder aus der Burg, die Hiergeborenen, mich oder Darius, hatte man von Anfang an so sauber abgekapselt von unserer Herkunft, von allen, die hinter dem Eisernen Vorhang hockten, dass jedes Vermissen nur ein Theoretikum bleiben konnte, ein Konzept.” Das Besondere an dem Roman ist für mich das Gefühl, das er einfängt. Ein Vater, der alles richtig machen, die Familie zusammenbringen, will und seinen Stolz als Schutzschild vor sich trägt. Eine Mutter, die jede freie Minute zum Lesen nutzt und sich mit den neuen Worten schmückt, ohne zu wissen, ob sie Bernsein oder Phosphor sind. Dazwischen immer wieder die Frage “Raus oder runter?” Mich haben die Gespräche in der Familie immer unheimlich bewegt. Wie Geschichten erzählt werden, wie Erinnerungen verzerrt und diskutiert werden.. Diese Dynamik ist mir so gut bekannt und mit der Zeit konnte ich das Buch gar nicht mehr weglegen, wollte weiter in dieses Gefühl. Erzählt ist Schlesenburg schonungslos ehrlich. Manchmal erschütternd und tieftraurig, manchmal herzlich und amüsant.Sehr detailliert, mir persönlich teilweise fast zu ruhig, aber mit viel Humor an den richtigen Stellen Es wird nicht jedem gefallen, aber wer sich drauf einlässt, wird belohnt.

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Mit dem teilweise autobiografischen Roman “Schlesenburg” legt der Autor Paul Bokowski eine packende Erzählung über Kindheit und Anderssein vor. Man ist ziemlich schnell drin, in dem beschriebenen kleinen Kosmos der Schlesenburg, der mit überwiegend polnischen Menschen besiedelten Siedlung, mit ihren eigenen, kuriosen Regeln und den vielen Einzelschicksalen und Traumata der Flucht. Wir erleben die Geschichten aus den Augen eines Kindes im Jahr 1989, manchmal springt der Autor mit uns in die Zeit nach der Schlesenburg. Aber größtenteils werden wir geleiten von den arglosen Einordnungen eines Kindes, von seinen verwirrten Gedanken, dem Versuch die Umstände einzuordnen und den eigenen Platz zu finden. Eingerahmt von Regeln jeglicher Art “Schlesenburg” vereint viele Menschen unterschiedlicher Nationen. Paul Bokowksi gelingt es sehr präzise, ganz feine und nachvollziehbare Charaktere zu skizzieren, deren Handlungen man schnell grob einschätzen kann. Der Hauptcharakter hat Freunde in der Siedlung, die seine eigenen Gegensätze überspitzt verkörpern. Eigentlich wäre er gerne so mutig und frech wie Apolonia, aber gleichzeitig befürchtet er, hinterrücks von ihr erschlagen zu werden. Dem gegenüber stehen Darius und Kuba, beide eher unterkomplex und traumatisiert. Die eigenen Regeln im Umfeld der Schlesenburg sind absurd, aber teilweise auch liebenswürdig. Für die Discounter im Umfeld gelten unausgesprochene Aufenthaltszeiten, in Nation eingeteilt. Wenn die Kinder einander zum Spielen abholen, ist es enorm wichtig, ob sie danach fragen, ob man “runter” oder “raus” kommen kann. Weniger spaßig sind die nicht aufgedeckten Regeln der Erzieherin im Kindergarten, die die Kinder beim Zettelziehen täuscht und so dafür sorgt, dass aus der Schlesenburg immer nur Hirten für das Krippenspiel angeheuert werden. Worte, die man wirken lassen sollte Paul Bokowskis Schreibstil hat zwei Seiten, einerseits schweift er manches Mal stark aus, was nicht zwingend negativ zu werten ist. Andererseits findet er so fabelhafte Formulierungen, dass man sich diese mehrfach durchlesen und für immer merken möchte. Besonders im Hinblick auf die Eltern schreibt er poetische und tiefgründige Beobachtungen, die mit Sicherheit beeinflusst von den autobiografischen Einflüssen sind. Ausgangspunkt von “Schlesenburg” ist der Wohnungsbrand bei Frau Galówka. Mit dem frei gewordenen Wohnraum kommen Ängste über den Zuzug von Russlanddeutschen, aber insgeheim haben einige in der Siedlung schon besondere Pläne für eine mögliche Nutzung. Auch wenn sich ein Handlungsstrang durch das Buch zieht, dann sind es eher die Nebenpfade, die interessant sind. Mit Sicherheit wirkt das Buch anders aus Menschen, die selbst eine ähnliche Geschichte haben. Aber grundsätzlich lässt sich für alle ein Roman über Kindheit, Familien und Fremdfühlen als Essenz ziehen. “Schlesenburg” von Paul Bokowski ist auf jeden Fall kein Roman zum Durchhetzen. Man sollte die Worte zu schätzen wissen und sie kurz sacken lassen, denn trotz allem vorhandenen Humor, ist es eigentlich die auf den Seiten festgehaltene Bitterkeit des Lebens, die dafür sorgt, dass man sich angefasst fühlt.

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Monumental steht sie da, am Stadtrand, ein wenig abseits, irgendwie doch mittendrin: die Schlesenburg, eine Wohnsiedlung, hauptsächlich für Flüchtlinge aus Polen. Hier lebt der Ich-Erzähler mit seinen Eltern in einer gemütlichen Wohnung, ein Idyll nur für sie allein. Es sind die kleinen Schicksale und deren Schläge, die den Takt der Schlesenburg diktieren: die brennende Wohnung der Galówka, das plötzliche Verschwinden von Darius, die fehlgeschlagene Flucht von Onkel Staszek, die Pläne für einen zweiten Versuch. Während die Mutter in ihre Konsalik-Romane vertieft auf dem Balkon liegt und der Vater zwischen Arbeit und dem leerstehenden Galówka-Apartment hin- und herpendelt, erobert sich Ich die Gegend. An seiner Seite die nassforsche Apolonia, die mit ihrer Mutter vor kurzem Teil der Schlesenburg-Familie wurde und schon jetzt allesamt im Griff hat, irgendwie sogar die Brüder Baranowski, die keiner so richtig leiden kann. Es wird geliebt, gehasst, sich angefreundet und zerstritten, gelästert, gestänkert – und ein bisschen geträumt von einer ungewissen Zukunft... „Manchmal war die Schlesenburg wie eine große Einraumwohnung. Ein karges, rechteckiges Zimmer, ohne Fluchten oder Nischen. Nichts, wo man sich verstecken konnte“ (S. 211) Von einer Anekdote zur nächsten schlängelt sich „Schlesenburg“, das Debüt von Paul Bokowski, und hat sich damit in kürzester Zeit in mein Herz erzählt. Hier regiert die kleine Form, gegossen in ein erzählerisches Gerüst, das die „Geschichten nach der Flucht“ versammelt und damit in der Art einer literarischen Architektur auftritt. Mit jeder Bewohner*in erhält die Siedlung und das dortige Leben Kontur, schärft die Sinne für die individuellen Lebensentwürfe, die Träume und Hoffnungen, die durch ihr Zusammensein in der neuen Heimat genährt werden. An jeder Ecke gibt es etwas Neues zu entdecken, neue Biographien, hinter denen sich Menschen mit ihren schrulligen Eigenheiten und immer wieder auch brüchigen Seelen verbergen. Bokowski gelingt es, eine Topographie der Heimat zu schreiben, die sich aus einem kollektiven Lebensgefühl speist, angereichert mit einer Vielzahl kleiner Vignetten, die für sich genommen unscheinbar wirken, ungesehen verpuffen könnten, aber die zusammen die wichtigen, tragenden Bausteine im kreierten Erzählgebäude bilden. Neben diesen formalen Finessen widmet sich Bokowski auch dem Erzählen als Topos selbst: Die Dialoge der Familie wickeln sich umeinander, drehen Kreisbahnen um das zu verhandelnde Sujet, brauchen Minute um Minute, bis der Kern der Sache getroffen ist, und spiegeln damit eine Form der Alltagskommunikation, die an Abendbrotstischen stattfindet. Dieses Miteinander-Aushandeln greift auch die textuelle Ebene wiederum auf: Immer wieder jagt der Ich-Erzähler von einem Thema zum nächsten, springt hin und her, vor und zurück, und lässt die verworrenen Gedanken eines Kindes Literatur werden. Mit großer Herzenswärme lässt uns Paul Bokowski Teil der Schlesenburg werden: Wir springen mit dem Ich, Darius und Apolonia in Richtung Schweinebach, ekeln uns vor den Baranowskis, schwärmen heimlich für den schönen Serkan und stehen unbeholfen vor der vom Schicksal gebeutelten Frau Mazurka. Am Ende der Lektüre meint mensch, Freunde zurücklassen zu müssen, Charaktere, die wir begleitet haben, die uns mit ihrer Alltagsschläue, mit ihrem (Lebens-)Mut ein Stück weit auch nach Schlesien entführt haben, den Blick auf einen Inner Circle gewährt haben, der uns ansonsten verschlossen geblieben wäre. Mich hat „Schlesenburg“ mit voller Wucht erreicht, fast schon mühelos von einer Episode zur nächsten getragen, einen kurzen Abstecher um die nächste Hausecke nehmend. Berührend, authentisch, äußerst humorvoll und mit einem großen Jutebeutel voller Augenzwinkern!

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