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Rezension zu
Nachleben

Neues vom Literaturnobelpreisträger

Von: Literaturreich
08.12.2022

Seitdem der britisch-tansanische Autor Abdulrazak Gurnah im vergangenen Jahr den Literaturnobelpreis verliehen bekommen hat, sind bereits drei seiner auf Deutsch zuvor nur noch antiquarisch zu erhaltenden Roman neu im Penguin Verlag erschienen, das zuletzt erschienene Nachleben (Original 2020) in einer neuen Übertragung durch Eva Bonné. Die vorherigen Veröffentlichungen (Das verlorene Paradies und Ferne Gestade) haben genau wie der im kommenden Frühjahr erscheinende Titel Die Abtrünnigen ihre alten Übersetzungen beibehalten (lediglich durchgesehen), die von drei jeweils unterschiedlichen Übersetzer:innen stammen. Vier Bücher, vier Übersetzer:innen – das ist zwar verständlich (man will schnell liefern), aber auch bedauerlich. Der Atem der drei Verlage bei den drei zwischen 1992 und 2006 erstmals auf Deutsch veröffentlichten Titeln war anscheinend nicht lang genug, um dem Autor treu zu bleiben. Umso besser, dass sich nun der Penguin Verlag der Werke annimmt. Mit Nachleben liegt nun der zweite dezidiert historische Roman von Abdulrazak Gurnah vor, nachdem er in Ferne Gestade zwar auch mit historischem Bezug und allerlei Rückblenden ein modernes Fluchtschicksal zum Thema wählte. Nachleben nun kann man fast als eine Fortsetzung von Das verlorene Paradies lesen, da es zeitlich anknüpft und Ort und ähnliches Setting teilt. Wir befinden uns Anfang des 20. Jahrhunderts im damaligen Deutsch-Ostafrika. Das Deutsche Kaiserreich hat sich seit 1885 mit Verve in sein Kolonialabenteuer gestürzt und den späten Einstieg gegenüber Konkurrenzmächten wie Großbritannien, Frankreich oder Spanien durch besonderen Eifer zu kompensieren versucht. Dieser „Eifer“ zeigte sich leider in einer unglaublichen Brutalität und Rücksichtslosigkeit gegenüber der einheimischen Bevölkerung. "In den fast dreißig Jahren, die sie das Land nun besetzen, haben die Deutschen so viele Menschen getötet, dass die Erde von Schädeln und Knochen bedeckt und von Blut durchtränkt ist“. Dieses brutale Vorgehen unterschied sich doch sehr vom deutlich moderneren und letztendlich effizienteren Vorgehen der britischen Kolonialherren, die nach dem Ersten Weltkrieg das Land von den Deutschen „übernahmen“. In Nachleben schauen wir aber zunächst auf die blutige Zeit der deutschen Kolonisation. Und staunen, dass sich tatsächlich zahlreiche Afrikaner dieser Unterdrückungsmacht freiwillig in einer Kolonialarmee anschlossen. Natürlich wurden auch Männer zum Dienst gezwungen, aber viele der sogenannten Askaris versahen ihren Militärdienst mit einem gewissen Stolz und einer gewissen Bewunderung für die gründlichen, erbarmungslosen Kolonialherren. Meist dauerte diese Begeisterung aber nicht sehr lange an. So auch bei Hamza, einem der Hauptprotagonisten in Nachleben. Hamza hat einiges mit dem Protagonisten in Das verlorene Paradies gemeinsam. So wurde auch er einst von seinem Vater als eine Art „Pfand“ bei einem Kaufmann, bei dem der verschuldet war, zurückgelassen. Aus diesem „Sklavendasein“ erscheint der Dienst als Askari eine willkommene Flucht. Bald lernt Hamza aber die Grausamkeit und den Rassismus der Deutschen Militärs kennen. Sein direkter Vorgesetzter hegt homoerotische Neigungen zu ihm (was der Autor aber nicht näher ausführt), lehrt ihn lesen und schreiben und protegiert ihn. Auch einige Deutschkenntnisse kann Hamza sich hier aneignen. Ein anderer Vorgesetzter hat ihn aufgrund seiner privilegierten Stellung auf dem Kieker und verletzt ihn schließlich schwer. Bei einem deutschen Pastor wird er gesund gepflegt und fast liebevoll umsorgt. Es ist ein großer Verdienst der Literatur von Abdulrazak Gurnah, dass sein Schreiben nie in Schwarz-Weiß verfällt, sondern die gesellschaftliche und politische Komplexität immer im Auge behält und Ambivalenzen zulässt. Wieder gesund, kehrt Hamza in seine Heimatstadt zurück und tritt unter der Vermittlung von Khalifa in den Tischlereibetrieb von Amur Biashara ein. Der Araber Khalifa ist so etwas wie der zweite Hauptprotagonist. Er ist Buchhalter und verheiratet mit der frömmelnden, strengen Bi Asha. Die Beiden sind kinderlos und haben die kleine Schwester von Khalifas Freund Ilyas an Kindesstatt angenommen. Dieser Ilyas ist die dritte Hauptfigur und gleichzeitig die große Leerstelle im Roman. Ilyas ist als ganz kleiner Bub aus seinem armen Elternhaus ausgerissen, wird von Söldnern aufgegriffen und landet schließlich in einer christlichen Missionsschule. Auch er erwirbt hier einige Bildung und vor allem Deutschkenntnisse. Als Erwachsener erfährt er, dass er noch eine jüngere Schwester besitzt, seine Eltern aber inzwischen tot sind. Er macht sich auf die Suche und findet schließlich Afiya. Sie ist es, die er bei seinem Freund Khalifa zurücklässt, als er sich seinerseits der Deutschen Kolonialarmee als Askari anschließt. Während Hamza verletzt, körperlich beeinträchtigt und mit Traumata aus dem Krieg heimkehrt, bleibt Ilyas verschollen. Es kommt zu einer Annäherung zwischen Hamza und Afiya, die Beiden heiraten und bekommen einen Sohn, den sie Ilyas nennen. Und der später - am Ende des Buchs befindet man sich schon in den 1950er Jahren - noch die Spur seines Onkels und Namensvetters, die nach Deutschland führt, verfolgt. Abdulrazak Gurnah hat mit Nachleben ein wunderbar episches, erhellendes und spannendes Buch geschrieben. Seine elegante, eher nüchterne Sprache und der genaue Blick lassen keinerlei Exotik oder Afrika-Romantik aufkommen. Er erzählt differenziert, nachdenklich und zurückhaltend, niemals wertend. Das ist erzählerisch vielleicht ein wenig konventionell, aber dem hochinteressanten Thema der deutschen Kolonialgeschichte absolut angemessen. Die Erzählfäden, die zunächst locker nebeneinander her laufen, verknüpft er geschickt. Ein historischer Roman, wie er sein soll. Und einer, der mit seiner Thematik immer noch hochaktuell ist. Die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte hat gerade erst begonnen.

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