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Rezension zu
Landpartie

Manchmal ist weniger mehr

Von: Zimteule
05.05.2022

Puh, gar nicht so einfach, zu Gary Shteyngarts "Landpartie" eine Rezension zu verfassen. Die Ausgangssituation ist schnell zusammengefasst: Acht Menschen wollen gemeinsam die beginnende Coronapandemie in der Bungalowkolonie ihres Gastgebers aussitzen. Konflikte, Liebschaften, bröckelnde Fassaden und Selbsterkenntnisse sind zu erwarten. Doch da gibt es noch so viel mehr Themen, die in den Mikrokosmos im Hudsonvalley, New York, hineingestopft wurden. Und das ist es auch, was meiner Meinung nach das Lesevergnügen trübt: Die Geschichte will zu viel auf einmal. Ein großes Feld ist die Identitätsfindung US-amerikanischer Einwanderer. Die Gastgeber Sasha und Masha sind russischer Herkunft und jüdischen Glaubens, sie haben eine Adoptivtochter (Natasha), die gebürtig aus China stammt. Sashas Freunde Ed und Karen kommen aus Korea, Vinod aus Indien und der geheimnisvolle, divenhafte Schauspieler, der (fast) namenlos bleibt und hauptsächlich eingeladen wurde, um dem Schriftsteller Sasha mit seinem neuen Drehbuch zum bitter nötigen Erfolg zu verhelfen, ist zur Hälfte irisch und ein Viertel Türke. Einzig die taffe Südstaatlerin Dee, ehemalige Studentin von Sasha, ist waschechte US-Amerikanerin: "Ich bin die einzige Weißbacke", stellt sie fest. Selbstfindung und Vergangenheitsbewältigung stehen auf dem Plan. Aber auch: Als Künstler (Schriftsteller, Schauspieler) bestehen zu können, beziehungsweise von der Kunst leben zu können, ist ein Feld, das in "Landpartie" beackert wird. Weiter geht es, und zwar mit der Geschlechterdebatte: Die acht Jahre alte Adoptivtochter Natasha sucht nicht nur nach ihrem kulturellen Erbe (sie fühlt sich mehr Korea zugehörig als China), sie bezeichnet sich selbst als genderfluid und möchte lieber Nat statt Natasha genannt werden. Selbstverständlich spielt auch die Pandemie eine Rolle. Die Panik davor wird von Masha verkörpert. Sie ist Medizinerin (Psychiaterin) und die stets mahnende Stimme, die ruft "Abstand halten, Maske auf!" Ganz wichtiges Thema: Rassismus. Denn während des mehrmonatigen Aufenthalts der Charaktere in der Bungalowkolonie wird George Floyd von einem Polizisten bei der Festnahme getötet. Den Immigranten begegnen in der ländlichen Nachbarschaft immer mehr beängstigende Symbole, wie gehisste schwarz-blaue Flaggen als Zeichen der Solidarität mit dem Handeln der Polizei. Dann ist da noch die Liebe: Unvermeidlich, dass sich in der Geschichte Pärchen bilden, doch dabei wird ebenfalls die zerstörerische Macht von Dating-Apps in Gestalt der von Karen entwickelten App "Tröö Emotions" aufgegriffen. Die Charaktere sind schwierig. Eine Beziehung zu ihnen aufzubauen und mit ihnen zu fühlen ist mir nicht gelungen, obwohl sie nicht alle Unsympathen sind. Sprachlich ist das Buch natürlich eine Wucht. Besonders am Anfang, wenn Shteyngart mit subtilem Humor in einem einzigen Satz sensationelle und urkomische Bilder erschafft: "Die ländliche tiefe Toilettenschüssel sorgte für die Akustik einer Kathedrale". Oder die Beschreibung des Inders Vinod: "Augen, die er aus Höflichkeit hatte erlöschen lassen". Oder die Geräusche der Schafe auf der Weide: "Jedes tiefe Altmännerblöken eine Protestnote gegen Pflegeheime." Das hat mir sehr gut gefallen. Ein großes Lob auch an den Übersetzer Nikolaus Stingl, der mit Sicherheit keinen einfachen Job hatte. "Landpartie" dürfte vor allem Lesern gefallen, die ein Faible für Einwanderer-Storys, US-amerikanische Kulturgeschichte, russische Literatur und Cechovs "Onkel Vanja" haben, sowie all jenen, die den kreativen Umgang mit Sprache schätzen.

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