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Rezension zu
Die Töchter des Nordens

Mitreißende Distopie mit starken Frauenfiguren

Von: artWORDising Diana Wieser
24.05.2021

Erschreckend, schonungslos, mitreißend: Halls Prosa erinnert ein wenig an Margaret Atwoods Roman „The Handmaid‘s Tale“. Auch hier werden in naher Zukunft Menschen, insbesondere Frauen, durch ein totalitäres Regime unterdrückt und planen den Aufstand. Allerdings haben die Frauen in Halls Roman wesentlich mehr Handlungsspielraum, Testosteron und Power! Die Times bezeichnete den erstmals 2007 erschienen Roman als „eines der besten Bücher des Jahrzehnts.“ Dass er 14 Jahre später aktueller denn je ist, sorgt umso mehr für Unbehagen. Ein Must-Read der Extraklasse. England in naher Zukunft. Zerstört durch Umweltkatastrophen und Kriege fristen die Menschen ein kärgliches Dasein in urbanen Ghettos. Im Zuge des „staatlichen Aufbaus“ ist alles reglementiert. Essrationen und Wohnunterkünfte werden zugeteilt, die Meinungsfreiheit gilt als abgeschafft. Frauen wird prophylaktisch ein Verhütungsapparat eingebaut, das Recht aufs Kinderkriegen per Lotterie ausgelost. Die Ich-Erzählerin, die im Roman nur als „Schwester“ auftritt, will sich damit nicht mehr abfinden. Ihre Ehe ist am Ende, ihre Geduld ebenso. Eines Nachts verlässt sie ihr Ghetto und flüchtet nach Carhullan. Diese abgelegene Farm im Lake District wird von ein paar Rebellinnen rund um die Anführerin Jackie Nixon geführt. Der Weg dorthin ist hart. Das Aufnahmeritual allerdings noch härter. Die Frauen führen ein autarkes Leben, versorgen sich selbst mit ökologischer Landwirtschaft im Einklang der Natur. Sie jagen, bauen an, verarbeiten. Zumindest der Teil der Arbeiterinnen. Dann gibt es noch jenen Teil, der zu Kriegerinnen ausgebildet wird. Denn es scheint klar, dass die Regierung irgendwann zuschlagen wird. Schwester hat zunächst Probleme damit, ihren Platz in der Gruppe zu finden. Sie ist die erste Frau, der seit Jahren die Flucht nach Carhullan geglückt ist und die von den wirklichen, katastrophalen Verhältnissen im Draußen zu berichten weiß. Anführerin Jackie scheint ein besonderes Interesse an ihr zu haben. Ist es sexueller Natur? Oder wird Schwester für einen ihrer Pläne instrumentalisiert, ohne es zu merken? Sarah Hall schreibt schonungslos spannend. Die Schmerzen der Protagonistin werden beim Lesen nahezu körperlich spürbar. Schönheit und Schrecken der Natur bringt sie wortgewaltig auf den Punkt. Schnell wird klar, auch das Paradies hat seine Schattenseiten. Krankheiten und Ungeziefer grassieren, die Kälte ist allgegenwärtig, die Arbeit anstrengend. Zwischen den lesbischen und heterosexuellen Frauen gibt es Feindschaften und Eifersüchteleien. Im Zuge der neuen Rollenverteilungen durchlebt Schwester eine erstaunliche Metamorphose. Sie entdeckt eine Stärke – und Härte – in sich, die sie nie für möglich gehalten hätte. In diesem Buch greift Hall in atemlosem Tempo eine Vielzahl von Themen auf. Es geht um das Spannungsfeld zwischen Menschen, Geschlechtern, Individuen und der Gesellschaft. Was darf der Staat? Wo beginnt und endet die Freiheit des Einzelnen? Warum hat sich der Mensch von der Natur entfremdet? Welche Kraft liegt in ihr, welchen Preis fordert sie? Ist es legitim, im Namen des Guten Gewalt anzuwenden? Sind Frauen die besseren Führer oder unterliegen auch sie irgendwann der Versuchung von Macht? Es sind große Themen, die beim Lesen noch lange nachwirken. Fazit: Nervenzerreißende Spannung von der ersten bis zur letzten Seite. Neben dem Plot ist es vor allem der aktuelle Aspekt, der beim Lesen Unbehagen bereitet. In immer mehr westlichen Ländern verlieren Frauen ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung zum Beispiel durch das Abtreibungsverbot. Fast täglich treten neue Femizide in den Schlagzeilen auf, PolitikerInnen und Aktivistinnen werden durch „Incels“ in den Sozialen Medien aufs Übelste angegriffen. Ist die Welt rund um Carhullan näher als wir denken? Halls Buch ist ein wichtiges Werk. Um nicht gar zu sagen ein Meisterwerk!

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