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Rezension zu
Aus der Welt

Eindrucksvolles Debüt, über das sich diskutieren lässt

Von: Constanze Matthes
10.02.2021

Dass Literatur immer auch Gedächtnis ist, dass ein Werk noch Jahre nach seinem Erscheinen erneut in den Fokus rücken und bedacht werden kann, beweist auch Karl Ove Knausgård, der berühmte weil auch preisgekrönte Norweger, dessen Bücher in zahlreichen Sprachen übersetzt wurde; allen voran sein sechsbändiges autofiktionales Mammut-Schreibprojekt „Min kamp“. 22 Jahre nach dem Erscheinen seines umfangreichen Debüts „Ute av verden“ kann dieser Erstling unter dem Titel „Aus der Welt“ auch in deutscher Übertragung gelesen und vor allem debattiert werden. Denn dieses Buch hat große Diskussionen ausgelöst, nicht so sehr in Knausgårds Heimatland, wo er vielmehr als erster Debütant überhaupt mit dem renommierten Kritikerprisen geehrt wurde, sondern zuerst in Schweden. 2015 kritisierte die Literaturwissenschaftlerin Ebba Witt-Brattström das Buch und bezeichnete es als „literarische Pädophilie“. Und auch in Deutschland, nun fünf Jahre später, geht die Diskussion weiter, die einen loben, die anderen zerreißen das Buch förmlich in der Luft, eine Auseinandersetzung, die allerdings bereits die „Min kamp“-Reihe angesichts ihrer privaten Details aus dem Leben des Schriftstellers und seiner Familie begleitet hat. Streitpunkt ist nunmehr die intime Beziehung zwischen dem 26-jährigen Henrik Vankel und seiner nur halb so alten Schülerin Miriam, die in dem Debüt geschildert wird und an den Klassiker „Lolita“ von Vladimir Nabokov aus dem Jahr 1955 erinnert, der von der Liebesbeziehung des Literaturwissenschaftlers und Ich-Erzählers Humbert Humbert zu der zwölfjährigen Dolores Haze, die er Lolita nennt, erzählt. Vankel kommt für ein Jahr als Aushilfslehrer in einen nordnorwegischen Ort unweit von Tromsø. Er versucht, Anschluss an die Gemeinschaft aus Lehrerkollegen und Eltern zu finden, doch er scheitert. Vor allem seine Kollegin und Nachbarin Linda rückt von ihm ab, als er sich ihr aufdrängt. Zeitgleich zeigt sich Vankel fasziniert von Miriam. Er sucht die Nähe zu ihr, empfindet ein intensives Begehren. Heimlich besucht sie ihn. Nach einer gemeinsamen Nacht flieht er Hals über Kopf gen Süden, um schließlich wieder in der Stadt seiner Jugend, in Kristiansand, anzukommen. Ein Rückzug, der von Erinnerungen an seine Kindheit begleitet wird. An die schwierige problembeladene Beziehung zwischen seinen Eltern und zu seinem Bruder Klaus, die erfolglosen Annäherungsversuche an gleichaltrige Mädchen, die zu seinem unsicheren und schambehafteten Wesen beigetragen haben. Vankel lebt in seiner eigenen Welt. Die Komplexität des Buches entsteht sowohl durch die zahlreichen, auch ineinander verschränken Zeitebenen als auch durch die Wechsel der Perspektiven sowie zwischen erzählter Handlung und vielschichtigen, oft auch essayhaften Reflexionen des Helden. So ist auch von den Großen der Literaturgeschichte wie Flaubert, Hamsun und Proust zu lesen, vom Genie Leonardo da Vinci, vom Zauberer Houdini oder vom deutschen Kaiser Wilhelm I., der sich regelmäßig in Norwegen erholt hat. Dass Knausgård Grenzen überschreitet, zeigt auch ein langer, ausufernder surrealer Traum des Ich-Erzählers. Wer deshalb dieses Buch nur auf die nur kurze, wenn auch detailfreudige Intim-Szene beschränkt, wird diesem Werk nicht gerecht werden. Sicherlich und glücklicherweise werden heute Debatten über Sexualität und Missbrauch ganz anders geführt, doch soll es dabei Schriftstellern verwehrt sein, darüber zu schreiben? Persönlich stimme ich Knausgårds persönliche Verteidigung seines Buches zu, die in einem Beitrag der Süddeutschen Zeitung zu lesen ist: Alles Menschliche habe in ihr eine Berechtigung, „da die Literatur, indem sie frei ist, auch frei von Moral ist, das heißt, frei von Verdammung.“ Vielmehr sei es, so finde ich, dem Leser die Aufgabe zugesprochen, über das Wesen der Protoganisten, ihre Stärken und Schwächen, zu urteilen und zu erkennen: Erzählen ist nicht das Gleiche wie Gutheißen, wie es an einer weiteren Stelle in dem Beitrag heißt. Einzig und allein, dass die Geschehnisse rein aus der männlichen Perspektive geschildert werden, laste ich ihm an. Mit Blick auf die Anspielungen auf sein eigenes Leben – der Norweger ist wie sein Protagonist in Kristiansand aufgewachsen, war als Lehrer im Norden tätig – verwies er jedoch, dass der Missbrauch reine Fiktion sei. In einem Interview für den norwegischen Fernsehsender NRK nach Erscheinen seines Debüts in Norwegen betonte der 30-Jährige – damals ohne Bart und mit Kurz-Haarschnitt – zudem, dass er ein Problem mit der Bezeichnung „Pädophilie“ habe. Auch aus anderen Gründen sollte dieser umfangreiche Band mit einem durchaus positiven Blick bedacht werden. Knausgård erweist sich in „Aus der Welt“ als ein sensibler Beobachter der Menschen, ihren Handlungen und ihrem Gefühlsleben. Überaus intelligent setzt er sich mit den Themen Zeit und Erinnerungen, Vergänglichkeit und die Rolle des Zufalls aueinander, beschreibt mit sehr viel Sprachkraft und Poesie die markante Landschaft im Norden sowie die Straßen und Plätze der Stadt, durch die Vankel streift. Mit Stadt und Land, Norden und Süden erschafft der Autor zudem zwei Pole, die den Helden prägen. Einmal mehr setzt während der Lektüre der bekannte Sog ein, der mich bereits während der „Min kamp“-Reihe begleitet hat, entsteht der Eindruck, dass sich bereits in diesem von Details überbordernden Debüt – er schreibt, als müsste er eine Fotografie so gut es geht beschreiben – die Klasse Knausgårds zeigt. Wenngleich ich weiterhin hoffe, dass trotz der Berühmtheit und Präsenz des Norwegers dessen Kollegen hierzulande nicht vergessen werden.

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