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Rezension zu
Der Fall des verschwundenen Lords

Amüsanter Auftaktband mit kleinen Schwächen

Von: Chridhe
27.10.2020

"Der Fall des verschwundenen Lords" ist der Auftaktband der bislang 5-bändigen Reihe um die kleine Schwester des ikonischen Ermittlers Sherlock Holmes. Zielgruppe des Romans sind Mädchen zwischen ca. 12 und 15 Jahren, was man der Geschichte bzw. dem Stil des Buches auch abspürt – zumindest, wenn man den Roman als Erwachsene liest bzw. hört. Springer versucht zwar, das England des ausgehenden 20. Jahrhunderts lebendig werden zu lassen – sowohl das ländliche als auch das städtisch geprägte –, beschränkt sich dabei aber meist auf die Auflistung von unterschiedlichen Pflanzen, Gebäuden und Personen, denen die Protagonistin begegnet, ohne diese aber detailliert zu beschreiben. Hier fällt ganz deutlich auf, dass die Autorin sich stark auf die Fantasie (und vielleicht auch [Lese-]Erfahrung) der Leserin verlässt und wenig Kreativität in die Erschaffung dieser Welt investiert. Ähnliches gilt auch für den inhaltlichen Wechsel von „Ich flüchte vor meinen Brüdern“ zu „Ich muss den verschwundenen Lord finden“: Dieser kam zu abrupt und unmotiviert. Was dann am Ende auch für die Auflösung des Kriminalfalls um den Lord gilt: Mehr zufällig stolpert Enola über den geläuterten Jungen und bringt diesen dann nach einem kurzen Abenteuer unversehens zu Scotland Yard. Die Gestaltung von Enola nimmt hingegen mehr Raum ein: Die Vierzehnjährige beweist von Anfang an, dass sie nicht auf den Kopf gefallen ist. Als ihre Mutter an ihrem Geburtstag spurlos verschwindet, bricht sie nicht in Panik aus, sondern schaltet gleich sowohl die Behörden als auch ihre beiden wesentlich älteren Brüder Mycroft und Sherlock ein. Und da sie im Gegensatz zu diesen mit ihrer Mutter und deren Gepflogenheiten vertraut ist, kommt sie Hinweisen auf die Spur, die den beiden Männern entgehen. Ähnliches gilt, als sie eher zufällig in den Fall des verschwundenen Lords verwickelt wird. Da dieser etwa in ihrem Alter ist (nur zwei Jahre jünger), stößt sie auf Indizien und Zusammenhänge, die den erwachsenen Ermittlern entgehen. Im gleichen Zuge spürt man jedoch auch, dass sie zwar einerseits über ein gewisses Maß an Scharfsinn und Gewitztheit verfügt, andererseits in vieler Hinsicht aber auch noch über eine gehörige Portion Naivität, die zum Teil sicher darauf zurückzuführen ist, dass sie keine anderen Kindern in ihrem Alter kennt und lediglich Kontakt zu ihrer unkonventionellen Mutter (und deren fragwürdigen „Erziehungsmethoden“) sowie zwei Angestellten hatte. Andere würden ihr Verhalten vielleicht auch als Abenteuerlust interpretieren. Denn welche Vierzehnjährige kommt schon auf den Gedanken, sich nur mit etwas Geld und zwei Büchern bewaffnet auf die Flucht vom ländlichen England in die Hauptstadt zu begeben, um dort nach ihrer Mutter zu suchen? Und das Risiko einzugehen, stattdessen Verbrechern und Mördern in die Hände zu fallen? Die übrigen Figuren bleiben relativ blass. Der zwölfjährige Lord wird von einer ähnlichen Naivität bzw. Abenteuerlust getrieben wie sie; seine Motivation bleibt eher unbestimmt (seine Mutter lässt ihm lange, lockige Haare wachsen und kleidet ihn in Samt und Seide, als sei er eine Puppe – was durchaus einen Grund zur Flucht darstellt ;-) ). Interessanter sind da schon Mycroft und Sherlock Holmes, die beiden älteren Brüder von Enola. Diese führen seit vielen Jahren ein eigenständiges, erfolgreiches Leben in London und haben es dort zu Bekanntheit und Wohlstand gebracht. Dass ihre Mutter im Alter von etwa fünfzig Jahren noch einmal ein Kind – Enola – bekommen hat, ist für sie (und die Gesellschaft) ein Skandal, weshalb sie der Mutter nach dem Tod des Vaters auch keinerlei Beachtung mehr schenken. Ganz zu schweigen davon, dass sie keine emotionale Bindung an sie haben. Dabei zeichnen sie sich darüber hinaus durch eine ausgeprägte Frauenfeindlichkeit aus, die zum Teil sicher auch auf das allgemeine Frauenbild der damaligen Zeit zurückzuführen ist. Zu dieser Zeit wird von Frauen der Oberschicht erwartet, dass sie zwar gebildet sind und eine Zierde für ihren Mann, aber keine eigene Meinung besitzen. Eigene Rechte genießen sie ebenfalls nicht wirklich, was z. B. dazu führt, dass Enolas Mutter ihren ältesten Sohn um Geld anbetteln muss, um ihr Leben zu bestreiten. Daher wird sie als Künstlerin, Freidenkerin und Frauenrechtlerin getrieben, sich aus dieser Situation zu befreien – und ihre Tochter Enola ebenfalls, wenn diese sich dessen zunächst auch noch nicht bewusst ist. Gerade die Gegenüberstellung zwischen der Frauenfeindlichkeit der beiden Holmes-Männer und Enolas Einfallsreichtum und Selbstbewusstsein sorgt im Roman für viel Unterhaltung – wenn sich die Herren der Schöpfung über den unterentwickelten Verstand der Weiblichkeit unterhalten, diese aber wiederholt beweisen, dass sie ihnen in der einen oder anderen Hinsicht überlegen sind. Köstlich! Über das Hörbuch Gelesen wird "Der Fall des verschwundenen Lords" von Luisa Wietzorek (*1989). Sie besitzt die richtige Stimme für eine Person in Enolas Alter und vermittelt deren Naivität und Abenteuerlust auf wunderbare Weise. Aber meines Erachtens läuft sie gerade dann zu Höchstleistungen auf, wenn sie in die anderen Figuren schlüpft, ihre Stimme je nach Geschlecht, Persönlichkeit und Situation verändert und so dafür sorgt, dass diese vor dem inneren Auge des Hörers zum Leben erweckt werden. Dies gelingt ihr bei erwachsenen Frauen ebenso wie bei Männern, bei Bediensteten genauso wie bei Gaunern, ihren frauenfeindlichen Brüdern oder dem verschwundenen Lord. Sie hat mich dadurch wunderbar unterhalten und amüsiert! Mein einziger Kritikpunkt sind die extrem variierenden Lautstärken: Deskriptive Passagen sowie Enolas wörtliche Reden zeichnen sich durch eine merklich niedrigere Lautstärke aus als die wörtlichen Reden aller anderen Figuren. Dies fällt vor allem dann auf, wenn man das Hörbuch auf einer niedrigen Lautstärke laufen lässt. Mein Fazit: Ein eher durchschnittlicher, wenn auch alles andere als langweilige Auftakt zu einer interessanten Reihe für Jugendliche, der mich dennoch durch Wietzoreks Sprachstil köstlich unterhalten hat.

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