Buch und Hörbuch

Persönliche Bekenntnisse einer der faszinierendsten Stimmen unserer Zeit.

Sie begeistert weltweit. Sie ist mutig. Sie scheut keine Tabus: Die französisch-marokkanische Schriftstellerin Leila Slimani ist ein »Star der französischen Gegenwartsliteratur« (ttt). Mitreißend und mit entwaffnender Offenheit erzählt sie in diesem sehr persönlichen Buch von einer ungewöhnlichen Nacht, die sie allein im Museum Museo Punta della Dogana in Venedig verbringt, dem einstigen Zollgebäude der Serenissima. Einem Ort, an dem sich seit jeher Orient und Okzident begegnen und der zum Sinnbild ihrer eigenen Geschichte wird. Leïla Slimani nimmt uns mit auf eine Reise durch ihr Leben. Fesselnd erzählt sie von ihrer Familie und ihrer Kindheit in Rabat, vom Alltag in Paris als Mutter und Schriftstellerin, vom Leben zwischen den Kulturen, ihrer Aufgabe als Schriftstellerin und gesellschaftspolitisch engagierter Frau – und letztlich von der Kraft der Literatur.

»Es sind diese glasklaren Sätze, die Leila Slimani zu einer der bedeutendsten französischen Stimmen ihrer Generation machen.« NDR Kultur

Ein Buch voll mit Zitaten wie diesen:

„Schreiben heißt, mit dem Schweigen spielen, auf Umwegen Geheimnisse aussprechen, die im wahren Leben unaussprechlich sind.“

„Beim Schreiben entdeckt man die Freiheit, sich selbst zu erfinden und die Welt zu erfinden.“

„Schreiben heißt, sich Fesseln anlegen, doch aus diesen Fesseln selbst erwächst die Möglichkeit einer ungeheuren, schwindelerregenden Freiheit.“

„Schreiben ist Disziplin. Es ist Verzicht auf Glück, auf die alltäglichen Freuden. Ohne Aussicht auf Heilung oder Trost.“

„Die Literatur ist eine Kunst der Zurückhaltung.“

Die ersten Seiten aus »Der Duft der Blumen bei Nacht«

Paris. Dezember 2018

Oberste Regel, wenn man einen Roman schreiben möchte, ist, Nein zu sagen. Nein, ich komme nicht mit auf ein Glas. Nein, ich kann nicht meinen kranken Neffen hüten. Nein, ich habe keine Zeit für ein Mittagessen, ein Interview, einen Spaziergang, einen Kinobesuch. Man muss so oft Nein sagen, dass die Anfragen schließlich selten werden, das Telefon nicht mehr klingelt und man irgendwann bedauert, nur noch Werbung im Posteingang zu finden. Nein sagen und als Misanthropin, arrogant, krankhaft ungesellig gelten. Um sich herum eine Mauer aus Absagen errichten, an der alle gesellschaftlichen Verlockungen zerschellen. Das hat mir mein Lektor gesagt, als ich anfing, Romane zu schreiben. Das habe ich in sämtlichen Essays über Literatur gelesen, von Roth bis Stevenson, über Hemingway, der es auf eine simple und triviale Weise zusammenfasste: »Die schlimmsten Feinde eines Schriftstellers sind das Telefon und Besucher.«
Er fügte hinzu, dass die Einsamkeit sich ohnehin von ganz allein einstelle, wenn man erst einmal die Disziplin erworben habe, wenn die Literatur das Zentrum, der Kern, der einzige Horizont eines Lebens geworden sei. »Die Freunde sterben, oder sie verschwinden, vielleicht, weil sie unserer Zurückweisung überdrüssig sind.«
Seit ein paar Monaten zwinge ich mich genau dazu: die Bedingungen für meine Isolation zu schaffen. Morgens, sobald die Kinder in der Schule sind, gehe ich hinauf in mein Büro und verlasse es erst am Abend wieder. Mir wird immer kalt, und im Lauf der Stunden ziehe ich erst einen Pulli über, dann noch einen, um mich schließlich in eine Decke zu wickeln.
Mein Büro misst drei mal vier Meter. An der rechten Wand geht ein Fenster auf einen Hof hinaus, aus dem Restaurantgerüche aufsteigen. Der Geruch nach Putzmittel und Linsen mit Speck. Gegenüber der Tür dient mir ein breites Holzbrett als Arbeitstisch. Die Regale sind voller Geschichtsbücher und Zeitungsausschnitte. An die linke Wand habe ich Post-its in verschiedenen Farben geklebt. Jede Farbe entspricht einem Jahr. Rosa steht für 1953, gelb für 1954, grün für 1955. Auf diese Zettel habe ich den Namen einer Figur, eine Idee, eine Szene geschrieben. Mathilde im Kino. Aïcha in der Quittenplantage. An einem inspirierten Tag habe ich die Chronologie dieses Romans festgelegt, den ich gerade schreibe und der noch keinen Titel hat. Er erzählt die Geschichte einer Familie in der kleinen Stadt Meknès, zwischen 1945 und der Unabhängigkeit des Königreichs Marokko. Ein Stadtplan von 1952 ist auf dem Boden ausgebreitet. Darauf sieht man ganz klar die Grenzen zwischen der arabischen Medina, der jüdischen Mellah und der neuen europäischen Stadt.

Heute ist kein guter Tag. Ich sitze seit Stunden auf diesem Stuhl, und meine Figuren reden nicht mit mir. Nichts stellt sich ein. Weder ein Wort noch ein Bild, noch der Beginn einer Melodie, die mich dazu hinreißt, ein paar Sätze zu Papier zu bringen. Seit heute Morgen habe ich zu viel geraucht, meine Zeit im Internet vertrödelt, einen Mittagsschlaf gemacht, doch nichts ist passiert. Ich habe ein Kapitel geschrieben und anschließend wieder gelöscht. Ich muss an diese Geschichte denken, die mir ein Freund erzählt hat.
Ich weiß nicht, ob sie wahr ist, aber sie hat mir sehr gefallen. Lew Tolstoi soll, während er Anna Karenina verfasste, eine schwere Schaffenskrise durchgemacht haben. Wochenlang schrieb er nicht eine Zeile. Beunruhigt über das verspätete Manuskript und das Schweigen des Meisters, der nicht auf seine Briefe antwortete, beschloss sein Verleger, der ihm eine für die damalige Zeit beträchtliche Summe vorgestreckt hatte, den Zug zu nehmen, um ihn zur Rede zu stellen. Bei seiner Ankunft in Jasnaja Poljana empfing ihn Tolstoi und antwortete auf die Frage, wie seine Arbeit voranschreite: »Anna Karenina ist gegangen. Ich warte, dass sie zurückkommt.«
Nichts läge mir ferner, als mich mit dem russischen Genie zu vergleichen oder irgendeinen meiner Romane mit seinen Meisterwerken. Doch dieser Satz verfolgt mich: »Anna Karenina ist gegangen.« Auch ich habe manchmal das Gefühl, dass meine Figuren sich mir entziehen, dass sie weggegangen sind, um ein anderes Leben zu leben, und erst wiederkommen, wenn es ihnen passt. Meine Verzweiflung, mein Flehen, ja so- gar meine Liebe zu ihnen sind ihnen vollkommen gleichgültig. Sie sind weg, und ich muss warten, bis sie wiederkommen. Wenn sie da sind, vergehen die Tage wie im Flug. Ich murmele vor mich hin, ich schreibe, so schnell ich kann, weil ich immerzu fürchte, dass meine Hände zu langsam sind für den Fluss meiner Gedanken. Dann habe ich schreckliche Angst, dass irgendetwas meine Konzentration stört, wie bei einem Seiltänzer, der den Fehler begeht, nach unten zu sehen. Wenn sie da sind, kreist mein ganzes Leben um diese Obsession, die Welt dort draußen existiert nicht. Sie ist nur noch eine Kulisse, in der ich mich bewege wie in Trance am Ende eines langen, angenehmen Arbeitstages. Ich lebe hinter der Bühne. Der Rückzug erscheint mir wie eine notwendige Bedingung, damit das Leben eintreten kann. Als ob, indem ich mich vom Lärm der Welt entferne, mich davor schütze, endlich ein anderes Mögliches entsteht. Ein »es war einmal«. In diesen geschlossenen Raum flüchte ich mich, ich entfliehe der menschlichen Komödie, ich tauche unter den dicken Schaum der Dinge. Ich verschließe mich der Welt nicht, im Gegenteil, ich nehme sie intensiver wahr denn je.
Schreiben ist Disziplin. Es ist Verzicht auf Glück, auf die alltäglichen Freuden. Ohne Aussicht auf Heilung oder Trost. Man muss, im Gegenteil, sein Leid kultivieren, wie Laboranten Bakterien in Reagenzgläsern kultivieren. Man muss seine Wunden wieder aufreißen, die Erinnerungen auf- wühlen, Schamgefühl und alte Tränen wachrufen. Um zu schreiben, muss man sich den anderen verweigern, ihnen die eigene Gegenwart und Zuneigung verweigern, seine Freunde und Kinder enttäuschen. Ich finde in dieser Disziplin zugleich Befriedigung, sogar Glück, und die Ursache meiner Melancholie. Mein ganzes Leben wird von diversen »ich muss« diktiert. Ich muss schweigen. Ich muss mich konzentrieren. Ich muss sitzen bleiben. Ich muss meine Bedürfnisse unterdrücken. Schreiben heißt, sich Fesseln anlegen, doch aus diesen Fesseln selbst erwächst die Möglichkeit einer ungeheuren, schwindelerregenden Freiheit. Ich erinnere mich an den Moment, als mir dies bewusst wurde. Es war im Dezember 2013, und ich schrieb gerade meinen ersten Roman, All das zu verlieren. Zu der Zeit wohnte ich am Boulevard Rochechouart. Ich hatte einen kleinen Jungen und konnte nur schreiben, wenn er in der Kinderkrippe war. Ich saß am Esstisch vor meinem Computer und dachte: »Jetzt kannst du absolut alles sagen, was du willst. Du wohlerzogenes Kind, das gelernt hat, sich zu benehmen, sich zurückzuhalten, du kannst deine Wahrheit aussprechen. Du brauchst es niemandem recht zu machen. Du musst nicht fürchten, irgendjemandem wehzutun. Schreib alles, was du willst.« In diesem grenzenlosen Freiraum fällt die soziale Maske. Man kann eine andere sein, man ist nicht mehr definiert über ein Geschlecht, eine soziale Schicht, eine Religion oder Nationalität. Beim Schreiben entdeckt man die Freiheit, sich selbst zu erfinden und die Welt zu erfinden.
Sicher, unerfreuliche Tage wie heute gibt es viele und manchmal einen nach dem anderen, was zutiefst entmutigend ist. Doch Schriftsteller sind ein bisschen wie Opiumsüchtige, und wie alle Abhängigen vergessen sie die Nebenwirkungen, den Brechreiz, die Entzugserscheinungen, die Einsamkeit und erinnern sich nur an den Rausch. Sie sind zu allem bereit, um diesen Höhepunkt wieder zu erleben, diesen erhabenen Moment, als die Figuren begonnen haben, durch sie zu sprechen, als das Leben sich regte.
Es ist 17 Uhr und bereits Nacht. Ich habe die kleine Lampe nicht angeschaltet, und mein Schreibtisch liegt im Dunkeln. Ich beginne zu glauben, dass in dieser Finsternis etwas eintreten könnte, ein Elan in letzter Minute, eine blitzartige Eingebung. Es kommt vor, dass die Dunkelheit Träumen und Fantasiegebilden erlaubt, sich wie Lianen zu entrollen. Ich klappe meinen Computer auf, ich lese eine Szene wieder, die ich gestern geschrieben habe. Es geht um einen Nachmittag, den meine Figur im Kino verbringt. Was lief 1953 im Cinéma Empire von Meknès? Ich stürze mich in die Recherche. Im Internet finde ich sehr bewegende Archivfotos, die ich sofort meiner Mutter schicke. Ich beginne zu schreiben. Ich erinnere mich daran, was mir meine Großmutter über die kräftige und rabiate marokkanische Platzanweiserin erzählte, die den Zuschauern die Zigaretten aus dem Mund riss. Ich will gerade ein neues Kapitel anfangen, als mein Handywecker klingelt. Ich habe eine Verabredung in einer halben Stunde. Eine Verabredung, zu der ich nicht Nein sagen konnte. Alina, die Lektorin, die mich erwartet, weil sie mir einen Vorschlag machen möchte, ist eine leidenschaftliche Frau, und sie kann sehr überzeugend sein.
Ich überlege, ihr eine feige, verlogene Nachricht zu schicken. Ich könnte meine Kinder als Aus- rede benutzen, sagen, ich wäre krank, ich hätte die Bahn verpasst, meine Mutter würde mich brauchen. Doch ich ziehe den Mantel an, stecke den Computer in meine Tasche und verlasse meine Höhle.



Weiterlesen

Auch als Hörbuch erhältlich:

Leïla Slimani neuer Roman in ungekürzter Lesung mit Isabelle Redfern – hier reinhören!

00:00
00:00

Jetzt bestellen

Leïla Slimani
© Editions Gallimard

Über die Prix Goncourt Preisträgerin

Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs. Slimani, 1981 in Rabat geboren, wuchs sie in Marokko auf und studierte an der Pariser Eliteuniversität Sciences Po. Ihre Bücher sind internationale Bestseller. Für den Roman »Dann schlaf auch du« wurde ihr der renommierte Prix Goncourt zuerkannt. »All das zu verlieren«, ebenfalls preisgekrönt, erscheint in 25 Ländern. In den Essaybänden »Sex und Lügen« und »Warum so viel Hass?« widmet Leïla Slimani sich dem Islam und dem Feminismus sowie dem zunehmenden Fanatismus. Sie lebt mit ihrer Familie in Paris.

Weitere Werke von Leïla Slimani