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SPECIAL zu Wolf Jobst Siedler

"Das ist nicht mehr meine Welt"

Gespräch mit dem großen Publizisten Wolf Jobst Siedler über das Ende des Bürgertums

Dieses Interview erschien am 10.10.2004 in der Welt am Sonntag
Berlins gutbürgerlicher Häuschenvorort Dahlem ist inzwischen so sehr an den Westrand der Stadt gerückt, dass der Taxifahrer in Prenzlauer Berg gar nicht recht weiß, wie er dorthin kommen soll. Es ist also ein würdiger Alterssitz für Wolf Jobst Siedler, den 78jährigen Verleger, Journalisten und Doyen des Westberliner Bürgertums. Soeben hat Siedler den zweiten Band seiner Memoiren veröffentlicht: "Wir waren noch einmal davongekommen" heißt er und ist eine Kulturgeschichte der Westberliner Nachkriegsjahre. Siedler sitzt im Wohnzimmer, an den Wänden hängen Bilder der "Berliner Secession", einer Künstlergruppe um 1920. Er ist eingerichtet in einer Mischung aus vormodern-bürgerlichen Möbeln und modernen Klassikern von Eames und Dieter Rams.

Welt am Sonntag: Man hat den Eindruck, dass Ihr Buch von Wehmut durchzogen ist.

Wolf Jobst Siedler: Nein. Ich bin nicht wehmütig. Ich sage nur, wie der alte Bismarck sagte, als er durch den Hamburger Hafen gefahren wurde und die neuen Anlagen sah: Das alles ist nicht mehr meine Welt. Er hat das Reich gegründet, aber die Entwicklung, die das Reich nahm, war ihm fremd.

Sie haben West-Berlin nicht gegründet, waren aber eine wichtige Figur in der Stadt ...

Siedler: ... und meist im Widerspruch mit dem Geist, mit dem Habitus der Zeit um 1968.

Dabei hätte es, was das Bewahren der Altbauten und der Bäume angeht, durchaus eine Allianz zwischen Ihnen und den 68ern geben können. Dafür stritten Sie schon in den frühen 60er Jahren in Ihrem Buch "Die gemordete Stadt".

Siedler: Jemand schrieb einmal: Wolf Jobst Siedler, den könnte man eigentlich den Großvater der Grünen nennen. Der hat als erster für den Baum gekämpft, als das ganz unmodern war.

Könnte es also sein, dass die Werte des nachwachsenden Bürgertums von heute auch Ihre Werte waren?

Siedler: Wächst das Bürgertum wirklich nach? Das alte Bürgertum jedenfalls, das gibt es nicht mehr. Man braucht nur einmal über die Friedrichstraße zu gehen, über den Kurfürstendamm. Ich machte einem meiner Freunde, Joachim Fest, vor ein paar Jahren den Vorschlag: Ich zahle dir fünf Euro, wenn ich einen Herrn mit Schlips sehe. Wir fuhren über den Kurfürstendamm und haben nicht einen einzigen Schlips gesehen.

Haben Sie den Eindruck, dass Berlin heute eine relativ plebejische Stadt ist?

Siedler: Es ist jedenfalls keine hochbürgerliche Stadt mehr.

Wird diese plebejische Note auf die Bundesrepublik abfärben?

Siedler: Ich glaube nicht.

Wie sah die Welt aus, die Ihnen am Herzen liegt?

Siedler: Sie liegt mir gar nicht so unbedingt am Herzen. Ich konstatiere mehr, dass sie verschwunden ist. Richard von Weizsäcker sagte einmal: "Wenn ich bei Ihnen bin, Herr Siedler, habe ich das Gefühl, das ist noch ein bisschen das alte Berlin." Da antwortete ich nur: "Herr von Weizsäcker, aber natürlich hätten wir früher nie eine Rolle gespielt. Im Grunde sehen Sie an der Rolle, die ich spiele, nur die Armseligkeit Berlins."

Wann ist das Bürgertum verschwunden?

Siedler: Mit den Nationalsozialisten. Die haben es abgeschafft.

Die Einrichtung von Hitlers Privaträumen allerdings hätte nicht gutbürgerlicher sein können.

Siedler: Er hat in allem aufs falsche Pferd gesetzt. Die Einrichtung der neuen Reichskanzlei war trostlos vulgarisierter Neoklassizismus. Diese Art von Bürgertum mag ich nicht.

Haben Sie, als Sie Ende der 60er Verleger von Hitlers Generalbauinspekteur Albert Speer wurden, mit ihm über seine Monumentalplanungen für Berlin gesprochen?

Siedler: Ja, natürlich. Ich habe aber nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich das schrecklich fand. Er war großzügig und liberal in jeder Hinsicht. Heftige Kritik an seiner Architektur nahm er hin.

Warum haben Sie Speers Memoiren veröffentlicht?

Siedler: Ich empfand Speer als den einzigen noblen faschistischen Architekten, er stammte aus altem Bürgertum, war nicht direkt in Verbrechen verwickelt...

Er hatte aber die Zwangsarbeiter unter sich.

Siedler: Ja, das war damals so üblich. Im Grunde war es natürlich schrecklich.

Ist es nicht aberwitzig zu glauben, dass Speer von der Ermordung der Juden nichts gewusst hat?

Siedler: Da legte er einen ungeheuren Wert drauf, dass er nichts gewusst hatte.

Haben Sie ihm das geglaubt?

Siedler: Es wurden Dokumente gefunden, die bewiesen, dass Speer dabei war, als Himmler die Pläne zur Judenvernichtung offenbarte. Er legte allen Wert darauf, dass er mittags weggefahren war und Himmler seine Rede erst am Nachmittag gehalten hatte. Er fragte mich: "Halten Sie es für möglich, dass ich verwickelt war in die Massenmorde?" Ich antwortete: "Herr Speer, ich halte es für möglich, dass Sie das alles verdrängt haben."

Hatten Sie Bedenken, Speers Memoiren zu verlegen?

Siedler: Nein. Marcel Reich-Ranicki war der einzige, der schockiert war.

Sind die Vorbehalte, die Reich-Ranicki in seinen eigenen Memoiren Ihnen gegenüber äußert, nicht nachvollziehbar?

Siedler: Wissen Sie, ich hatte eigentlich keine Schwierigkeiten mit Reich-Ranicki. Und er hatte keine Schwierigkeiten mit mir. Sonst wäre er nicht immer wieder zu mir in den Garten gekommen. Und er hätte mich auch nicht eingeladen zu sich nach Hause, in seine damalige Hamburger Wohnung, wo seine Frau ein gutes polnisches Essen für mich gekocht hat.

Was den literarischen Geschmack angeht, haben Sie beide relativ ähnliche Vorlieben. Nämlich Fontane und Thomas Mann.

Siedler: Ja, das nehme ich an.

Als jetzt im ZDF die liebsten Bücher der Deutschen vorgestellt wurden, sind Mann und Fontane als einzige deutschsprachige Klassiker unter den ersten 20 gewesen. Erfüllt Sie das mit Genugtuung?

Siedler: Mit Heiterkeit.

Sehen Sie es womöglich auch mit Heiterkeit, dass der Bundeskanzler selbst die Laudatio auf Manns "Zauberberg" gehalten hat?

Siedler: Ja. Ich hatte aber das Gefühl, er habe ihn nicht gelesen.

Wir haben einen Bundespräsidenten, der schneidig fordert, es müsse sich sehr viel ändern. Ist das der Ton des bürgerlichen Lagers?

Siedler: Er kommt ja aus Galizien, aus Bessarabien sogar. Das waren die Inseln der Auslandsdeutschen. Er ist mir sympathisch, ich habe nichts gegen ihn, aber er verkörpert kein bürgerliches Deutschland.

Spielt das Bürgertum in der heutigen Politik überhaupt eine Rolle?

Siedler: Nein.

Sie hatten Angebote, Berlin zu verlassen. Warum sind Sie geblieben?

Siedler: Wir sind in vielerlei Hinsicht mit der Stadt verwachsen. Wäre ich nach Hamburg gegangen, wo ich den "Spiegel" übernehmen oder Herausgeber der "Zeit" werden sollte, wäre ich ein Fremdkörper gewesen. Ich habe allen gesagt: Es muss mir gelingen, die Leute zu mir zu ziehen.

Schließlich saßen die Leute hier, in Ihrem Haus...

Siedler: Gorbatschow, Genscher, Kissinger, Helmut Schmidt, die waren alle hier. Sehr originell, dass hier in diesem bescheidenen Reihenhaus zum Teil die Weltgeschichte stattgefunden hat. Es waren alle großen liberalen und sozialdemokratischen Repräsentanten bei mir. Obwohl man mich für einen Rechten gehalten hat, waren mir die SPD-Politiker immer sympathischer.

Die von Ihnen gewünschte Bewegung hin nach Berlin ist inzwischen eine Massenbewegung geworden.

Siedler: Das intellektuelle Deutschland zieht ja doch zum politischen. Auf die Dauer wird Berlin einen Sog ausüben. Aber es wird 20 oder 30 Jahre dauern, bis die Stadt sich erholt hat.

Erfüllt es Sie mit Hoffnung, dass Ihr neues Buch auch in Ostberliner Buchhandlungen zu finden ist?

Siedler: Ich bin oft nach Ost-Berlin gefahren und musste jedesmal den Mindestumtausch für mich, meine Frau und unseren Sohn bezahlen - bei jedem Besuch 30 West-Mark. Irgendwann wollte ich nicht mehr. Also sagte ich zu meiner Sekretärin: "Setzen Sie eine Bescheinigung auf: Herr Wolf Jobst Siedler, seine Ehefrau und deren beider Sohn sind vom Mindestumtausch befreit." Da fragte sie: "Wer unterschreibt denn das?" Da sagte ich: "Sie!"

Hat das funktioniert?

Siedler: Ich fuhr an die Grenze, zeigte diesen Ausweis. Der Wächter ließ mich links herausfahren und verschwand in seiner Bude. Meine Frau sah mich schon in Sibirien. Nach fünf Minuten kam er wieder: Sie können fahren. Später war ich eingeladen bei der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin. Der Präsident bot mir an, eine Bescheinigung auszustellen, die mich vom Mindestumtausch befreit. Ich sagte: "Ich bin schon befreit." Er fragte: "Von wem den?" Und ich sagte: "Von mir selbst."

Interview von
© Sebastian Hammelehle

Wir waren noch einmal davongekommen

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