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Rezension zu
Mein lieber Herr Gesangsverein, die Waldfee holt die Kuh vom Eis

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Deutsche Verbalakrobatik deluxe

Von: artTEXTart
22.03.2017

Lars Ruppel, in Hessen ist das ein Begriff. 2015 stolperte ich das erste Mal bewusst über diesen Namen im Rahmen des Slampoetry in Giessen. Ich mag Sprachwitz, die Beschäftigung mit Sprache und noch mehr das Hinterfragen von Sprachkonstruktionen. Zugegeben, ich habe ich nie damit befasst, ob es Gedichtsbücher von Lars Ruppel gibt. Mir erscheint gerade im Genre des Slampoetry, der insbesondere vom Vortragen leben, das geschriebene Wort benachteiligt. Vielleicht ist das ein Vorurteil, das es zu prüfen gilt. Dennoch hat mich eben aus diesem Grund das kürzlich erschienene Audiobook Mein lieber Herr Gesangsverein, die Waldfee holt die Kuh vom Eis sofort angesprochen: Ohne an einem öffentlichen Slampoetry teilnehmen zu müssen, lässt sich die Eigenart des Sprechers, der Klang der Worte hören. Perfekt! Die Random House Verlagsgruppe hat mir ein Rezensionsexemplar zukommen lassen, das ich mit viel Freude das erste Mal im Auto, auf dem Weg zum Socialmediawalk im Museum Judengasse gehört habe. In Teilen zumindest. Das Audiobook ist wahnsinnig umfassend, es besteht aus 2 CDS mit einer Gesamtspielzeit von über 2 Stunden. Etwas für lange, einsame Autofahrten also. Motivation und die Sache der Erwartungshaltung Ich habe ein Kartenspiel über Redensarten, das ich seit meiner Kindheit liebe. Schon immer mochte ich den Umgang mit Sprache, bildhafte Vergleiche, Analogien und vor allem ausdrucksstarke, vielseitige Wortwahl. Ein Misch all dessen habe ich von dem Audiobook erwartet. Ein bisschen Ringelnatz vielleicht, den ich sehr mag. Inhaltlich hatte ich mich, ganz ungewöhnlich für mich, nicht vorinformiert. Die Redensarten und ihre Herkunft im Gedicht, etwas Gesellschaftskritik, durchdachte Geschichten und gewürzt mit Ironie. Sehr vage Ideen aber doch eine nicht gerade niedrige Erwartungshaltung. Immerhin kündigt sich das Audiobook selbst so an: Lars Ruppels Slam-Poetry kommt daher wie Ringelnatz in Baggy Pants, wie Heinz Erhardt in Nietenjacke, wie ein Feuilletonist auf Speed auf einem Scooter-Konzert. Mein erster Höreindruck Am Stück höre ich Das Intro Holger, die Waldfee Schmidts Katze Heiliger Strohsack Mein lieber Herr Gesangsverein Nicht schlecht, Herr Specht Beim 6. Titel schweifen meine Gedanken ab. Nein, eine CD zum Durchhören ist das sicher nicht. Vergegenwärtigt man sich den Ablauf eines Slampoetrys, bei dem die Vortragenden 10-30 Minuten für ihre Darbietung bekommen, wundert das wenig. Gekonnter Sprachwitz, inhaltliche Tiefe, beißende Gesellschaftskritik und spielerische Ironie prägen die Texte, so viel ist klar. Sie verdienen es bewusst gehört zu werden. Die Reihenfolge ist dabei nicht relevant, auch wenn sich teilweise innerhalb der Stücke einzelne direkte oder indirekte Zitate anderer Gedichte wiederfinden. Der nicht durchgängige Rote Faden, der den AHA-Effekt verleiht. Nachdem das Radio aus ist, lasse ich gedanklich Revue passieren. Sprachwitz, angenehme Stimme, ganz nette Ideen, etwas poetisch, etwas märchenhaft. Versuch 2: Ich wähle einen ruhigen Moment zuhause, ohne sonstige Ablenkung und höre nur zur. Insgesamt habe ich das gesamte Audiobook verteilt auf 4 Tage / 4 Auszeiten aus dem Alltag durchgehört. Ich kann für das erste Mal Hören empfehlen diese Zeitspanne großzügig zu erweitern. Wer wirklich genau hören will, um die Wortarchitektur bestmöglich nachvollziehen zu können, braucht Zeit. Es lohnt sich auch Stücke zweimal direkt nacheinander anzuhören oder gar im Stück nochmal zurück zu spulen. Meine Favoriten des Audiobooks sind auf der 1. CD Titel 4 und 5, die ich im Folgenden etwas näher beschreibe. Wer sich komplett von Inhalt und Deutungsansätzen überraschen lassen möchte, sollte diese Abschnitte überspringen (Vorsicht Spoiler!) Heiliger Strohsack - Religionskritik und die Erklärung der Sinnsuche Nochmal Heiliger Strohsack, denn das fand ich besonders toll beim ersten Hören. Lars Ruppel schlüpft in die Rolle des personalen Erzählers, der sich auf der Sinnsuche seines Lebens befindet. Enttäuscht von deren Ausgang sieht er seinen Ausweg im Sprung vom Hausdach. Auf wundersame Weise wird er von einem Strohsack gerettet, auf dem er landet. Als Retter verehrt wird der Strohsack heiliggesprochen und verehrt. In logischer Folge muss ihm eine Kirche gebaut werden und Gläubige ihm huldigen, die missionarisch gewonnen werden. Das Herausfallen von Stroh wird als wohlwollendes Zeichen des heiligen Strohsack gewertet. Indes warten seine Jünger auf ein weiteres Zeichen und sehen das in einer Maus, die aus dem Sack kriecht. Als Sohn des heiligen Strohsacks bewertet, wird dieser neue Heiland gesucht. Der heilige Bimbam, der in Konkurrenz zum heiligen Strohsack Rettung und Zuversicht verspricht, wird als Ursache des Verschwindens der Maus gesehen und wird vertrieben. Das daran anschließende Auftauchen der Maus gibt den Gläubigen der Strohsackgemeinde Recht. „Da war´n alle froh und blöde wie Stroh.“ Dieser Titel beschreibt wie die Selig und Heiligsprechung der katholischen Kirche seit Langem geschieht. Geradezu ironisch erinnert es an die Reliquienkultur der einzelnen Kirchen und Dome und nimmt die Zuschreibung einzelner Funde zu Heiligen aufs Korn. Mehr als das geht es in diesem Poetry aber auch um Toleranz der Religionen untereinander. Was super ist, dass jedem Poetry – so auch diesem ein kurzer Ergänzungstext nachgesprochen wird. Auch der ist gereimt und in stilistisch derselben Form wie das übrige Gedicht. In diesem reimt Ruppel ein, dass der Mensch den Halt der Religion braucht, weil ihm viele Dinge unerklärlich sind. Mein lieber Herr Gesangsverein „Dieses Stück wird das perfekte Ende aller Künste sein“ Sehr melodisch kommt das nächste Stück daher. Diesen Eindruck hat man direkt aufgrund der Tonalität. Die Sprache untermalt dies, denn sie bedient sich der Musikwelt: „…niemand Lieder singt, schwer zum Klingen bringt, totes Sinnfonieorchester, Tonleiter aus Stahlbeton, Schall zerbricht…“ Es ist nur stimmig wenn kurz darauf das Gedicht in einen Gesang mündet, der sich Beethovens Ode an die Freude bedient. Diese kurze Assoziation des Zuhörers, die zugleich leichte Zweifel lässt, wird etwas später durch ein direktes Zitat „Freude schöner Götterfunken“, das sich allerdings variiert und deshalb gerade spannend fortsetzt „… heute sollen wir feuertrunken himmlische Verliebte sein, soll die Welt ein Ständchen singen, dass des Mädchens Herz zerbricht, denn Musik ist eine Sprache, die sogar Tim Bendzko spricht.“ Nach diesem Seitenhieb grölt ein Stadtbekannter Säufer eine Adaption des Ärzte-Klassikers Schrei nach Liebe. Justin Biber, Florian Silbereisen, Nena und „was sonst sein Maul nicht hält […] wird zum Lied vereint.“ Famos ist jedoch nicht nur dieses Porträt von Musik, Klang und Ton. Diese Lyrics sind eine grandiose Milieuschilderung einer Plattenbausiedlung, die klischeehafter und doch realer und greifbarer kaum sein könnte. Weit besser als jeder realistische Autor beschreibt Ruppel die Plattenblaugrau turmende Siedlung, in der Menschen in Menschenschachteln leben, der Rentner vom Balkon rotzt, Hunderudel kläffend durch die Hochhausschluchten ziehen, beschmierte Wände von fast stummen Hilferufen zeugen, Musik nur Krach von drüben ist, Schaukeln auf dem Spielplatz quietschen, raschelnde Lidlwerbung über den Boden weht, Straßenköder streunen, Londsdale Jogginghosen bekleidete Atzen sich rumtreiben, NPD Tapeten von der Wand rutschen, Neonazis Döner lutschen, Hochgetunte Autos dröhnen, Schritte im Treppenhaus hallen, Fernsehpublikum-Applaus durch die Flure schallt und das Geschrei als eine Mutter ihr Kind verhaut. Und inmitten Herr Gesangsverein, dessen Stück das perfekte Ende aller Künste zu sein verspricht. Grandiose Verbalakrobatik mit stimmigem Inhalt! Fazit: Deutsch as its best Lars Ruppel ist deutscher Meister des Slam Poetry. Verdient. Definitiv. Das Audiobook bezeugt seine Sprachgewandtheit, die wahrlich ein Talent ist. Ruppel lässt daran teilhaben und erfreut alle, die das Spiel mit Sprache schätzen. Es lohnt sich zuzuhören, sich darauf einzulassen und die Bilder im Kopf entstehen zu lassen. Das kann nur gute Sprache, bildhafte und reiche Sprache. Lars Ruppel zeigt Deutsch as its best, er schöpft weit im Wortspektrum ohne gestelzt zu wirken, seine Sprache bleibt im Alltag verhaftet und exakt das macht den Reiz aus: Lars Ruppel zeichnet in seinen Poetrys Lebenswelten, die uns alle mehr oder weniger umgeben, die wir kennen, die wir gesehen oder gehört haben. Berührungspunkte gibt es also genug. Das Auge isst mit Über die Gestaltung der beiden CDs in Kontrastfarben Rot und Blau und einigen anderen kontrastierenden Themen wie beispielsweise Stadt und Wald mag man streiten, thematisch passt sie in jedem Fall. Sie wirkt zurückhaltend und suggeriert, dass es um das gesprochene Wort geht. Soweit bin ich voll dabei. Schade ist, dass es kein Booklet gibt. Bei derart komplexen Texten lese ich gern mit. Sind wir wieder bei den konventionellen Büchern Lars Ruppels. Klar, diese kann ich ebenfalls kaufen allerdings ist es schwierig zu überblicken in welchen die hier vorgetragenen 23 Gedichte enthalten sind. Unter der 2. CD gibt es die Hinweise auf die Publikationen im Satyr-Verlag Holger, die Waldfee und Die Kuh vom Eis. In beide werde ich demnächst ganz sicher reinlesen.

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