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Rezension zu
Der große Wunsch

Vom Leben im Dazwischen

Von: roomwithabook
08.10.2023

Murad sucht seine Tochter, und dafür ist er bis ins syrisch-türkische Grenzland gereist, denn Naima hat überraschend einen religiösen Fanatiker geheiratet und ist mit ihm nach Syrien aufgebrochen, um sich dem IS anzuschließen. Da es für Murad zu gefährlich ist, sich auf eigene Faust auf den Weg über die Grenze zu machen, kontaktiert er Schlepper und andere Mittelsmänner, um an Informationen über seine Tochter zu gelangen. Nach einer Weile erhält er Fotos einer verschleierten Frau sowie Audioaufnahmen, die angeblich von Naima stammen. Doch ist sie es wirklich oder will er sie nur erkennen, um überhaupt einen Anhaltspunkt zu haben? Sherko Fatah bleibt in seinem Roman ganz dicht bei Murad, wir sehen die Welt aus seiner Perspektive, wir warten mit ihm auf Neuigkeiten, auf irgendeine Art von Entwicklung. Das ist oft zäh, die Tage sind lang und in dem kleinen Ort, in dem sich Murad einquartiert hat, gibt es nicht viel zu tun. In Rückblenden erfahren wir von Murads Leben in Deutschland, von seinem Aufwachsen mit Eltern, die aus dem Irak eingewandert waren und immer versuchten, unauffällig zu bleiben. Murad selbst hält sich für aufgeklärt, er wollte seine Tochter als freien Menschen erziehen. Trotzdem haben sie sich voneinander entfernt, vor allem seit seiner Trennung von ihrer Mutter Dorothee war der Kontakt zwischen Vater und Tochter nicht mehr so intensiv. Allerdings wurde auch Dorothee von Naimas plötzlicher Radikalisierung überrascht. Und Murad, eigentlich ein Sozialarbeiter und nicht für seine Abenteuerlust bekannt, bricht zu einer monatelangen Reise auf, um seine Tochter zu befreien und zurück nach Berlin zu holen. Vielleicht verständlich aus der Vaterperspektive, ist es für ihn völlig klar, dass Naima verführt wurde, dass sie inzwischen sicherlich bereut, sich einer terroristischen Gruppe angeschlossen zu haben. Doch Murat, im kargen Grenzgebiet gefangen, dessen Regeln er nicht versteht und dem er sich aufgrund der Familiengeschichte zugehörig fühlen sollte, ohne es zu tun, muss sich nicht nur vor Ort mit willkürlich gezogenen Grenzen auseinandersetzen, sondern zunehmend auch mit den Grenzen im eigenen Kopf sowie mit den verschwimmenden Grenzen zwischen realer und digitaler Welt. Da wir als Leser:innen nur seine Perspektive sehen, bleiben die Menschen um ihn herum schablonenhaft, denn ihm wie uns sind die lokalen Codes und Gepflogenheiten fremd. Selbst Murads bester Freund Aziz bleibt undurchsichtig, obwohl er ihm verspricht, zu ihm zu kommen und ihm zu helfen. Letztendlich ist auch Murad verblendet, er will seine Tochter so sehen, wie sie in sein Weltbild passt. Andere Möglichkeiten verdrängt er, auch die Tatsache, dass sie als Terroristin vermutlich nicht so einfach zurück in ihr altes Leben könnte, will er nicht wahrhaben. Sherko Fatah schreibt über das Leben im Dazwischen, über die willkürlichen Grenzen, die uns oft daran hindern, die größeren Zusammenhänge zu erkennen und die andere Seite zu verstehen. Es geht um Familie und Verantwortung, um migrantisches Leben in der zweiten und dritten Generation sowie die Schwierigkeit, sich für andere Perspektiven zu öffnen. Bei diesem Roman lohnt sich das Durchhalten, denn auch wenn manchmal nicht viel zu passieren scheint, hat die Handlung einen dunklen Unterton, der für Spannung sorgt. Und das Ende ist fulminant und vermittelt sehr gekonnt das Gefühl, einer Situation komplett ausgeliefert zu sein.

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