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Rezension zu
Zwischen Welten

Erstens kommt es anders, und zweitens...

Von: Dr. Tobias Kallfell
02.09.2023

Der Roman „Zwischen Welten“ von Juli Zeh und Simon Urban stand über 30 Wochen in der Spiegel-Bestsellerliste (Stand: 08/23) und wurde mir noch dazu zur Lektüre empfohlen. Grund genug, mir das Werk einmal genauer anzuschauen. Und so viel vorweg: Es ist ein interessantes Beziehungsverhältnis zwischen den Protagonisten Stefan und Theresa, das die beiden Autoren entworfen haben. Ein Verhältnis, bei dem beide Charaktere in schwierigen Lebensphasen stecken und sich gegenseitig offenherzig und schonungslos die Meinung über die Lebenswelt des jeweils anderen mitteilen (in diesem Zusammenhang wird auch viel über gesellschaftspolitische Themen gestritten). Stefan und Theresa sind dabei auch hart im Umgang miteinander, echte Freunde eben, die sich schon seit ihrer gemeinsamen WG-Zeit aus Studienzeiten kennen. Sie schenken sich nichts, es geht hoch her, die Emotionen kochen des Öfteren hoch, die Nerven liegen blank. Und die Schilderung der Entwicklung ihrer Beziehung zueinander ist das, was den Roman in meinen Augen ausmacht. Ein tolles Buch, das ich nicht aus der Hand legen konnte und das in der geschickt gestalteten Figurenrede sicherlich auch den aktuellen Zeitgeist oft treffend wiedergibt. Nachdem Stefan und Theresa längere Zeit nichts voneinander gehört haben, treten sie wieder in schriftlichen Kontakt. Sie kennen sich noch aus dem Studium, doch ihre Lebensläufe haben völlig unterschiedliche Richtungen genommen. In regelmäßigen E-Mails und Whats-App-Nachrichten gewähren beide dem jeweils anderen einen Einblick in ihre aktuelle Lebenssituation. Stefan (ledig, Single, keine Kinder) ist Kulturchef bei einer Zeitung namens „BOTE“ und berichtet seiner ehemaligen Kommilitonin von den Streitigkeiten bei Redaktionssitzungen. Theresa (verheiratet, zwei Kinder) gehört ein Bauernhof, den sie nach dem Tod ihres Vaters übernommen hat. Sie hat ihr Germanistik-Studium aus diesem Grund abgebrochen. Die Lebenswelten beider Figuren könnten unterschiedlicher nicht sein. Und die Urteile übereinander fallen harsch aus. Vor allem die Whats-App-Nachrichten haben oft einen konfrontativ-aggressiven Grundton. Für Theresa ist Stefan ein Großstadt-Intellektueller, der keine Ahnung vom wahren Leben hat und in einem Elfenbeinturm existiert. Des Öfteren bemüht sie sich darum, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen und berichtet von ihrem harten Alltag als Landwirtin. Stefan beschreibt Theresa seinerseits am Beispiel der Arbeit im Redaktionsteam die aufgeheizte Atmosphäre bei seinem Arbeitgeber. Doch Theresa nimmt Stefan und seine Probleme nicht richtig ernst. Sie amüsiert sich über sein Theoretisieren. Sie ist eine Frau der Praxis, steht mit beiden Beinen im Leben und hat täglich praxisnahe Alltagsprobleme zu lösen, die der Beruf eines Landwirts mit sich bringt. Ihre Lebenswelt ist nicht so „verkopft“ wie die von Stefan. Sie packt an, sie leistet und findet kaum Zeit, sich hochtrabende Gedanken zu machen. Sie ist eine Kämpferin. Trotz finanzieller Schwierigkeiten und am Rande der Existenz gibt sie nicht auf und hält den Betrieb am Laufen. Wenn Mitarbeiter gesundheitlich ausfallen, fängt sie deren Arbeit zusätzlich mit auf. Sie setzt sich unermüdlich für Verbesserungen ein und fühlt sich von der Politik allein gelassen. Im Laufe des E-Mails Kontakts kommen sich Stefan und Theresa mal näher, mal distanzieren sie sich wieder voneinander. Zwischenzeitlich blitzen auch immer einmal wieder Gefühle auf, die Stefan für Theresa hat. Stefan hadert mit der gemeinsamen Vergangenheit. Er versteht z.B. nicht, warum seine ehemalige WG-Mitbewohnerin wortlos verschwunden ist, um den Hof zu übernehmen, und ihn nicht um Hilfe gebeten hat. Und was auch immer wieder während des Schriftverkehrs deutlich wird: Beide streiten über gesellschaftspolitisch relevante Themen und äußern dabei unterschiedliche Ansichten. So diskutieren sie z.B. über das Gendern. Und oft debattieren Theresa und Stefan leidenschaftlich, so dass die Fetzen fliegen. Theresa erscheint dabei häufig als die Pragmatikerin, Stefan hingegen ist der Analytiker. Sie – bodenständig in der Praxis. Er – intellektuell am Schreibtisch. Theresas Vorwurf: Stefan lebe in einer Blase, die mit der Realität wenig zu tun habe. Er kümmere sich zu sehr um die Lösung von Problemen auf Meta-Ebene und zu wenig um konkret greifbare Schwierigkeiten. Weitere Themen, die sie äußerst emotional erörtern: Klimaschutz, Ukraine-Krieg, struktureller Rassismus (das Verständnis für die Relevanz dieses Themas hält sich bei Theresa in Grenzen), kulturelle Aneignung, Ost-West-Problematik etc. Auf mich wirkte Theresa kompetent, wenn sie sich äußert. Die Abläufe des landwirtschaftlichen Betriebs werden sehr detailliert und kenntnisreich von ihr dargelegt. Sie hadert viel mit den politischen Zuständen und hat viele konkrete Ideen, wie sich die Situation der Landwirtschaft im Land verbessern ließe. Stefan seinerseits gewährt Einblicke in den journalistischen Alltag. So schildert er z.B. den Entstehungsprozess einer Sonderausgabe zum Thema „Klimaschutz“, bei der auch das Know-how von Aktivisten eingebunden werden soll, die sich dreist und anmaßend verhalten. Ein weiteres Thema, das zum Ausdruck kommt: Das Beziehungsleben beider Figuren. Dabei wird deutlich, dass Stefan wenig Ahnung von Familienleben hat. Theresa ihrerseits schildert, wie sie sich zunehmend von ihrem Mann Basti entfremdet, weil die Arbeit zu viel Raum einnimmt. Sie schafft es nicht einmal, in den Urlaub zu fahren, ohne ein schlechtes Gewissen ihrem Betrieb gegenüber zu haben. Die Entwicklung des Privatlebens beider Figuren ist so angelegt, dass Krise auf Krise folgt. Wenn man denkt, es geht nicht schlimmer, ereignet sich bereits das nächste Dilemma. So muss sich Stefans Chef z.B. nach einer unbedachten Äußerung gegen einen „shit-storm“ wehren. Hier wird die Schattenseite der sozialen Medien gut und treffend in den Blick genommen, wie ich finde. Es zeigt sich, wie der Chefredakteur durch eine Hetzkampagne zu Fall gebracht wird und wie seine ganze Familie darunter leidet. In diesem Zusammenhang werden im Roman auch interessante Fragen aufgegriffen, die die journalistische Arbeit betreffen: Wie sehr darf und muss man sich als Journalist:in positionieren? Wie viel Haltung ist beim Schreiben nötig? Wie sehr überlässt der Journalist bzw. die Journalistin die Meinungsbildung noch den Leser:innen? Oder sind Journalist:innen selbst Meinungsmacher und geben Meinungen vor, die man als Leser:in einzunehmen hat? Wie neutral muss Berichterstattung sein? Und kann sie überhaupt neutral sein? Und auch die Rolle von Aktivist:innen mit vielen Followern wird problematisiert. Wie kann es z.B. sein, dass Influencer mehr Gehör finden und Aufregung stiften als gestandene Journalist:innen? Im weiteren Handlungsverlauf nimmt die Politikverdrossenheit von Theresa immer mehr zu. Sie nimmt zunehmend radikalere Positionen ein, was ihre Verzweiflung deutlich werden lässt. Sie fühlt sich von der Politik im Stich gelassen, beklagt bürokratischen Irrsinn, fühlt sich machtlos, ohnmächtig. Sie wird immer mehr zu einer Wutbürgerin. In meinen Augen wird sehr deutlich, dass Theresa ganz klar bei sich ist. Sie weiß, wer sie ist, was sie will. Sie muss sich nicht finden. Sie hat ein ganz klares Ziel vor Augen, das sie zu erreichen versucht (wirtschaftlich überleben). Sie weiß nur nicht, wie sie das schafft. Stefan hingegen ist wankelmütig. Er ist in einer Art Selbstfindungsphase und muss für sich noch herausfinden, wie er seine journalistische Arbeit in Zukunft ausrichtet. Was beide Figuren eint: Sie machen eine schwierige Lebensphase durch. Das geteilte Leid schweißt sie zusammen. Doch es gibt auch klare Unterschiede: Theresas Abwärtsspirale hält an und lässt sich nicht aufhalten, die Katastrophen nehmen kein Ende. Es geht permanent bergab. Stefans Krisen hingegen sind nie von Dauer, er muss „nur“ Unruhephasen überstehen, sein beruflicher Erfolg ist (langfristig betrachtet) nie in Gefahr. Stefan ist auch viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, er geht nach meinem Dafürhalten nicht angemessen auf die Sorgen von Theresa ein. Letztlich geht es ihm doch nur um seine Karriere. In Krisenmomenten ist er zwar nah bei Theresa, doch in erfolgreichen Momenten ist er weit von ihr weg. Am Ende des Buchs könnte die Distanz zwischen beiden Figuren nicht größer sein. Das einzige, was mich während der Lektüre des Buchs gewundert hat: Woher nehmen beide Figuren die Kraft, sich solch langen E-Mails zu schreiben, wenn sie doch so wenig Zeit haben, ihren Alltag zu managen? Woher nehmen sie die Energie, so leidenschaftlich zu streiten und sich gegenseitig zu verletzen? Ein wenig hat mich das Buch an „Gut gegen Nordwind“ von Daniel Glattauer erinnert, nur dass hier nicht die Liebes-Thematik im Vordergrund steht, sondern die politische Thematik.

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