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Rezension zu
Töchter Haitis

Politisches Erwachen einer Frau

Von: roomwithabook
28.05.2023

Haiti ist ein Land, das mich literarisch schon eine Weile begleitet, allerdings habe ich bisher eher zeitgenössische Autor*innen gelesen. Deshalb war ich umso gespannter auf diesen Klassiker der haitianischen Literatur. Marie Vieux-Chauvet wurde 1916 in Port-au-Prince geboren, „Töchter Haitis“ war ihr erster Roman, der 1954 erschien. Er spielt in den Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts in ihrer Geburtsstadt und handelt von den damaligen politischen Ereignissen sowie den gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit. Mittelpunkt der Geschichte ist die junge Lotus, die zwar aufgrund ihrer helleren Haut und ihres Vermögens eher zur Oberschicht gehört, allerdings aufgrund der Tatsache, dass ihre Mutter ihr Vermögen durch Prostitution verdient hatte, von den meisten Nachbar*innen geächtet wird. Lotus lässt sich durchs Leben treiben, und erst als sie dem Revolutionär Georges Caprou begegnet und sich in ihn verliebt, beginnt sie, die Ungerechtigkeiten der haitianischen Gesellschaft nicht nur zu erkennen, sondern auch ändern zu wollen. An einigen Stellen des Romans wird deutlich, dass er vor fast 70 Jahren erschienen ist, denn natürlich blickt Lotus zu Georges auf, sie lässt zu, dass er sie aufgrund ihres Geschlechts nicht ernst nimmt und ist trotzdem gewillt, alles für ihn zu tun. Doch über diese dem Zeitpunkt des Entstehens geschuldeten Details lässt sich hinwegsehen, denn die Autorin entwirft ein lebendiges Bild vom Leben in einem von den Nachwirkungen des Kolonialismus und dem damit einhergehenden colorism und den kaum zu überwindenden Klassengrenzen geprägten Land. Es ist eine Art Coming-of-age-Geschichte, allerdings geht das Erwachsenwerden hier mit einer politischen Bewusstseinswerdung und einer Radikalisierung im Kampf gegen die herrschenden Ungerechtigkeiten einher. Ungerechtigkeiten, die sich mit den unterschiedlichen Präsidenten verändern, sodass sich die Revolutionär:innen plötzlich dem Volkszorn ausgesetzt sehen, weil ihre Hautfarbe zu hell ist und obwohl sie doch eigentlich für die Befreiung der einfachen Bevölkerung kämpfen. Grenzen werden nicht durchlässig, sie verschieben sich nur, und Lotus muss sich irgendwann fragen, wie weit sie gehen kann und will. Dieser Roman ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie ein Klassiker durch eine einfühlsame Übersetzung und umfangreiche Anmerkungen zu den Übersetzungsentscheidungen sowie den im Original belassenen kreolischen Ausdrücken einem modernen Publikum nahegebracht werden kann. Auch das Nachwort hilft bei der Einordnung des Textes. Ich habe diesen Roman jedenfalls sehr gern gelesen und freue mich nun auf das nächste Buch von Marie Vieux-Chauvet, das im Frühjahr im #manesseverlag erscheint. Haitianische Literatur darf mich gern noch lange begleiten!

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