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Rezension zu
Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit

"Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit" von Karl Ove Knausgård

Von: Fraggle
07.03.2023

Fazit: Als ich gegen Mitte des letzten Jahres Knausgårds „Der Morgenstern“ – Auftakt zu einem neuen fünfbändigen Romanzyklus des norwegischen Schriftstellers – gelesen habe, war die Frage nach dem Lesehighlight des – wenigstens – an literarischen Highlights für mich nicht armen Jahres 2022 umfassend beantwortet. Schon mit Zuklappen des Buches freute ich mich damals, dass danach noch sehr viel mehr davon kommen sollte, und da „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ zum Zeitpunkt des Erscheinens der deutschen Ausgabe von „Der Morgenstern“ bereits im norwegischen Original erschienen war, war die Wartezeit erfreulich kurz und ich konnte mich begierig auf die über 1.000 Seiten stürzen. Nur wie fasst man diese über 1.000 Seiten jetzt zusammen? Und wie beantwortet man eigentlich die im Grunde ganz simple Frage danach, worum es in diesem Roman eigentlich geht? Na, vielleicht fangen wir erst mal an Anfang an … Dort begegnet uns als erster Erzähler Helge, der auf wenigen Seiten von einer schicksalshaften Begebenheit in seiner Kindheit berichtet, von der hier nichts erwähnt werden soll, die im Zusammenhang aber wichtig ist. Bald schon verschwindet Helge jedoch von der erzählerischen Bildfläche und wird durch den jungen Syvert ersetzt. Er hat gerade seinen Wehrdienst als Koch bei der norwegischen Armee abgeleistet und kehrt zurück in sein Elternhaus in Bergen zu seiner Mutter und seinem Bruder. Sein Vater starb bereits, als Syvert etwa zehn Jahre alt war, durch einen Autounfall. Im Folgenden versucht der junge Mann, in seiner Heimatstadt wieder Fuß zu fassen und sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie seine weitere Zukunft aussehen soll. Auf den folgenden über 500 Seiten begleiten die Leser Syvert auf die für Knausgård typische, sehr akribische und detailgetreue Art. Sie werden Zeuge zahlreicher Konfliktsituationen mit seiner Mutter, die sich daraus ergeben, dass der junge Mann sich anfangs als bemerkenswert verantwortungslos erweist, sie beobachten ihn aber auch, wie er sich um seinen Bruder kümmert, der – ausgehend von meinen laienhaften diesbezüglichen Kenntnissen – vermutlich Anzeichen des Asperger-Syndroms aufweist, sie sehen ihn unbeholfen um die Gunst eines jungen Mädchens buhlen, und sie sind auch dabei, als Syverts Leben die Wendung vieler, nicht zu beneidender junger Menschen nimmt, die plötzlich gezwungen sind, ganz schnell erwachsen zu werden. Und die Leser sind eben auch dabei, als er in der Garage auf russisch verfasste Briefe von bzw. an seinen Vater findet. Er lässt sich die Briefe übersetzen und stellt fest, dass sein Vater offensichtlich nicht der Mensch war, für den er ihn hielt, im Mindesten aber mal gewisse Geheimnisse hatte. All das lässt sich wunderbar lesen, zumal Knausgård mit Syvert eine überzeugende Figur geschaffen hat, einen neugierigen Charakter, der sich viele Fragen über das Leben als solches stellt, naturwissenschaftliche wie metaphysische, und sich beispielsweise angesichts des zum Zeitpunkt der Handlung gerade geschehenen Reaktorunfalls in Tschernobyl fragt, was diese ominöse Radioaktivität eigentlich genau ist, was sie tut und wie sie es tut. Was dem Autor in der ersten Hälfte des Buches jedoch so ein bisschen auf die Füße fällt – auch aus der Sicht eines vergleichsweise geduldigen Lesers, für den ich mich halte -, ist eben diese akribische detailverliebte Erzählweise, die für Knausgård so typisch ist und die sich nicht nennenswert von der in „Der Morgenstern“ unterscheidet, dort aber leichter zu verkraften war, weil Knausgård darin ganze elf Erzählstimmen einführte, man in „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ aber eben über 500 Seiten nicht von Syverts Seite weicht, und die minutiöse Darstellung banalster Verrichtungen, verbunden mit dem Eindruck, dass sich irgendwann, überspitzt gesagt, Erzählzeit und erzählte Zeit fast die Waage halten, wirkt bald nur noch ermüdend. Aber man sollte sich durchbeißen. Nach über 500 Seiten wechselt der Autor nämlich segenswerterweise die Erzählstimme. Einfach so – weil ihm die Konventionen aus dem „Wie schreibt man einen Roman“-Handbuch vermutlich recht egal sind. Mit der Erzählstimme wechselt auch die Zeit und der Ort der Handlung, hin zu Alevtina, einer Dozentin für Evolutionsbiologie, die mit ihrem Sohn irgendwann in den 2010ern in Russland lebt. Später begegnen wir ihr nochmal zu dem Zeitpunkt wieder, an dem die Handlung von „Der Morgenstern“ einsetzt. Ab dem Zeitpunkt ihres ersten Erscheinens bilden sich erste Zusammenhänge im Bereich der Handlung heraus und man wird für das Durchhaltevermögen – abseits der Freude am Lesevorgang an sich – endlich belohnt. Da man allerdings nun Alevtina für eine gewisse Zeit folgt, stellt sich irgendwann die gleiche Wirkung beim Leser ein, wie bei den gut 500 ersten Seiten des Romans. Maßgeblich liegt das eben, wie erwähnt, daran, dass Knausgård sich auf weniger Erzählstimmen beschränkt als im Auftaktroman. Hier kommen, wenn ich mich nicht verzählt habe, nur fünf Personen als Erzähler zu Wort. Einmal der anfangs erwähnte Helge, der nach wenigen Seiten jedoch nie wieder auftaucht. Später kommt der LKW-Fahrer Jewgeni dazu, dessen erster Auftauchen als Erzählstimme ich inhaltlich vermutlich einfach nicht verstanden habe, und dessen zweites Auftauchen mutmaßlich lediglich dazu dient, hier ein dramatisches, zukünftiges Handlungselement zu teasern. Dazu gesellt sich letztlich die Lyrikerin Vasilisa, eine Freundin von Alevtina. Vasilisa findet als Erzählstimme in erster Linie Einzug über ein von ihr verfasstes Essay – Ähnliches gab es schon in „Der Morgenstern“ -, das sich inhaltlich mit der Philosophie von Nikolai Fjodorow befasst, der das religiöse Konzept der Wiederauferstehung unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtete und letztlich das Ziel verfolgte, den Tod durch wissenschaftliche Mittel zu besiegen. Witzigerweise – ich finds jedenfalls irgendwie witzig – spricht Vasilisa über ihr Essay – ist Essay eigentlich Maskulimun oder Neutrum?-, in dem sie sinngemäß sagt, dass er eigentlich als Vorwort für ein Buch gedacht war, dann aber den dafür zur Verfügung stehenden Umfang sprengte, hier und da immer mal wieder was dazukam und sie selbst noch nicht so genau wisse, wohin der Text letztlich denn so führen würde. Und exakt das ist mein Eindruck von „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“. Es wirkt, als hätte Knausgård eine Grundidee für seinen Roman gehabt, und dieser Idee erst an dieser, dann an jener Stelle noch ein bisschen Text hinzugefügt, bis er nicht nur die elementarsten Fragen nach dem Ursprung und dem Ende des Lebens beinhaltet, sondern seine Protagonisten auch noch detailliert bei der Ausübung ihres wöchentlichen Fußballtrainings begleitet. Und das meine ich grundpositiv. Nun wäre aber immer noch nicht geklärt, worum es in „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ eigentlich geht … Nun, vordergründig geht es um die Familiengeschichte von Syvert bzw. Alevtina und darum, was die beiden miteinander verbindet. Hinter dieser vergleichsweise einfachen Handlungsebene spricht Knausgård jedoch zahllose unterschiedliche Dinge und Fragen an, sei es das Phänomen der Mykorrhiza – einer Symbiose zwischen Pilzen und Wurzelsystemen anderer Pflanzen – und wie es dazu kommen konnte, sei es das Wesen von Farben, die Kommunikation von Bäumen untereinander bzw. des Waldes insgesamt, Radioaktivität, deutsche und russische Literatur, Musik und der Tod. Immer wieder auch der Tod, der sich als zentrales Handlungsmotiv durch den Roman zieht. Und immer, wenn sich der Roman von der Handlung ab- und einer dieser speziellen Fragen zuwendet, erreicht er seine stärksten Momente. Zwischen diesen Momenten flaniert der Leser dann durch wunderbar erzählte Alltäglichkeit, an deren Wirkung übrigens die erneut sehr gelungene Übersetzung von Paul Berf einen immensen Anteil hat. Und so wie man möglichst aufmerksam und aufgeschlossen durchs Leben gehen sollte, in Erwartung dessen, was es einem so bringt, so wandert man eben in tiefer Zufriedenheit durch diese wunderbar erzählte Alltäglichkeit und freut sich dennoch, wenn sie mal wieder von einem kleinen Exkurs unterbrochen wird. Der Roman wirkt ein bisschen so, als hätte man das Gefühl verschriftlicht, das einen zuweilen beschleicht, wenn man beispielsweise an einem wolkenlosen, späten Sommerabend, den zu haben ich sehr bald wieder hoffe, in den Himmel blickt und man sich fragt, wie das denn bitte alles -das da oben und all das hier unten – eigentlich sein kann. Dieses Gefühl, wenn man merkt, dass man beim Gedanken an all das sehr schnell an seine zerebralen Grenzen gerät, man das eigene Verständnis sehr bald überschritten sieht. „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ ist ein bisschen wie ein literarischer Fluss aus Gold, in dem man beim Hindurchwaten hier und da einzelne schöne Edelsteine findet. Nun mag man sagen, dass es so etwas nicht gibt. Aber wer weiß das schon so genau!?

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