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Rezension zu
Die Glücklichen

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Dynamische Risse – ein Erstlingsroman über eine unwirkliche Generation

Von: Detlef M. Plaisier
22.07.2015

<em>„Die Glücklichen“ hat Kristine Bilkau ihren ersten Roman genannt. Wie fühlt es sich an, ein 300-Seiten-Werk nach vierjähriger Arbeit in die Welt zu entlassen? So wurde Frau Bilkau von 3sat auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse gefragt. Die Antwort der 40jährigen Autorin lautete: „Unwirklich.“ Und unwirklich ist auch das Leben ihrer Protagonisten. Unwirklich ist das Leben jener Generation, für die Bilkaus Protagonisten habituell sind.</em> Isabell, Georg und Matti leben als kleine Familie in Hamburg. Isabell ist Cellistin, Georg Journalist und Matti grad auf dem Weg vom Baby zum kleinen Jungen. Sie gehören jener Welt an, in der man ausschließlich schreibend, musizierend, fotographierend oder gestaltend sein Geld verdient. Diese ihre Welt gerät ins Wanken, als die Musikerin Isabell aus gesundheitlichen Gründen pausieren muss, Georgs Verlag verkauft wird und seine Stelle wegfällt und die Familie obendrein eine Mieterhöhung zu verkraften hat. Das gute Leben. Das richtige Leben. Was ist das? Wie führt man es? Einer der zentralen Fragen der Philosophie spüren nun auch die Spitzen der Exekutive nach. „Gut leben in Deutschland“ heißt der von der Bundesregierung in Form einer Veranstaltungsreihe institutionalisierte Bürgerdialog. Ein Blick in das Buch von Frau Bilkau erwiese sich fraglos als „hilfreich“, über die Koordinaten des guten Lebens jener links-liberalen bürgerlichen Mittelschicht informiert zu sein. In popliterarischer Manier und nicht lediglich im Sinne eines unverbindlichen Serviervorschlags werden die Zutaten des guten, des richtigen Lebens aufgelistet: Dinkelkekse und Dinkelpulver, Wollstoffe und hölzerne Knebelverschlüsse, Veggie-Aufstriche, getrocknete Wildfeigen und Rosenkandis, Biohonig mit Lavendelblüten, Maronenaufstrich. Und natürlich: Pasta, Pasta, nochmals Pasta. Was die semantisch-lexikalische Ausstattung der eigenen Lebenswelt anlangt, pflegt man eine wohlig-melancholische Gründerzeit-Sehnsucht: Manufakturen und Floristenwerke, postmodern bevölkerte ehemalige Schlachthöfe sorgen für erdige Ursprünglichkeit. Die Glücklichen leben in einem Haus, dessen Fassade gerade saniert wird. Einmal kommt es zu einem Gespräch zwischen Isabell und einem der Bauarbeiter auf dem Gerüst. Es geht um die Zerfallsformen des Mauerwerks, um dynamische und nichtdynamische Risse. Die nichtdynamischen seien beruhigbar, leicht zu beheben im Abschlagen des lockeren alten und Aufbringen des neuen Putzes. Die dynamischen aber seien gefährlich, denn sie reichten tief ins Mauerwerk. Was nun widerfährt unserer jungen Familie, wenn die Risse dynamisch werden? Das Buch zeigt es in eindrücklicher Weise und unter Ausbreitung großer Materialfülle. „Die Glücklichen“ ist daher weniger episch, mehr ein Vademecum dessen, was man in den Kreisen der tatsächlich oder nur vermeintlich Lactoseunverträglichen zu fühlen, zu denken, zu essen, zu kaufen hat. Jede Krisis birgt zugleich Chancen. Bei den Glücklichen indes herrscht die nackte Angst. Was, wenn es nicht gelingen wird, fragt sich Isabell. Und dieses „es“ steht letztlich für alles, was ein Leben Erwachsener in familiärer Verantwortung und Gemeinschaft ausmacht. Diese nagende, zweifelnde Angst vor dem großen Scheitern gipfelt in dem Wunsch der Isabell, ihre Amygdala, das Angstzentrum im Gehirn, möge nicht mehr funktionieren. Wo nurmehr eine körperliche Erkrankung noch Aussicht auf Erleichterung verspricht, ist Festigendes, Befestigendes nicht in Sicht. Und auch der Austritt aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit eines ökologisch-urbanen Lebens im Nahbereich guter Italiener, Sushi-Bringdienste und staatlich alimentierter sozio-kultureller Infrastruktur misslingt. Festigend könnte für Isabell das Erlebnis der Mutterschaft sein. <em>„..., überrascht von dem, was ihr Körper konnte.“</em> heißt es an einer Stelle des Romans. Und das meint: Was der Körper einer Frau und nur einer Frau vermag! Letztlich findet sich indes über den ganzen Roman verteilt das Motiv eines Antagonismus weiblicher Selbstverwirklichung und Kreativität auf der einen, Wahrnehmung der Mutterpflichten auf der anderen Seite. Bilkau zeichnet das Bild eines Kindes als etwas Ruhigzustellendes, das stetig die Übungszeiten einer auch professionellen Cellistin sein wollenden Mutter dezimiert. Festigend könnte weiter die Partnerschaft von Vater und Mutter sein. Allein Georg findet sich mehr und mehr in der Rolle des Trottels wieder, dessen Frau während des gemeinsamen Ostseeurlaubs weithin im Bett bleibt. Weil der Seeblick etwas verstellter ist als früher. Weil es keine Saunawelten mehr gibt und Massagen, keine Obstsalate und frisch gepressten Säfte. Ihr „Wegwollen“, von Georg und also von ihrer Familie, breitet Kristine Bilkau nachgerade liebevoll aus. Da ist die auf Isabells Smartphone installierte Wetter-App mit täglichen meteorologischen Meldungen von Orten, an denen sie, Isabell, gerade nicht ist. Da ist das Nachsinnen über das friedliche, freie und ach so unspießige WG-Leben der eigenen Mutter mit einer Künstlerin oder gar der Mutter mit der kleinen Isabell, nachdem der Vater verlassen ward. Während Isabells Erleben und Fühlen in Farben und Klängen und im Schmerz, ob beim Malern oder bei Einkäufen reiche Schilderung erfährt, wird Georg als verdruckster Versager gezeichnet, der nur ein einziges Schlaflied kennt und dem die Abwesenheit von Bier und Chips im heimischen Haushalt zu schaffen macht. Kein Kompliment in den Zeiten von Vielfalt, Buntheit, Diversität. Und wie steht es mit dem Austritt aus einem haltlos gewordenen Lebensentwurf? Er hätte durchaus gelingen können. Auf dem Lande hätten die drei eine Wohnung mieten können. Dort hätte es einen neuen Job für Georg gegeben. Sein Verdienst hätte für die Ernährung der dreiköpfigen Familie genügt. Wie reaktionär ist das denn? Dann schon lieber: Träumereien von Kooperativen auf morbide gammelnden Dreiseithöfen, changierend zwischen Tauschwirtschaft und per Antrag abzurufender Staatsknete. Dann lieber private Fortschrittsfeindlichkeit, private Reaktion mithin, in Form der Reinszenierung infantiler WG- und Trödelmarkt-Seeligkeit. Isabell verkauft den Nachlass von Georgs Mutter in einer kurzerhand improvisierten Second-Hand-Offensive. Endlich kommt wieder etwas Geld rein! Derart traurig sieht Nachfolge, Erbfolge für die Generation Y aus! Endgültig gelöst wird das Geldproblem, indem man sich um einen Mitbewohner für die zu teuer gewordene Wohnung bemüht. Dass in der Erzählung des Romans der Auszug von Isabells letztem Mitbewohner die eigene kleine Familie erst konstituiert hatte, ist nun vergessen. Gelöst wird das Dilemma nicht durch Beschränkung und Konzentration auf die eigene familiäre Bindung. Gelöst wird es in den institutionellen Arrangements der urbanen Postmoderne, die von Frauen besser beherrscht werden. Dass dies freilich keine Lösung, dass dies nur ein Aufschieben ist, ahnt wohl auch Frau Bilkau. Vorsichtshalber lässt sie den alten Wandtresor, den Isabell beim Malern gefunden hatte, verschlossen, lässt alle Öffnungsversuche an widerständigem Stahl scheitern. Denn sollte es schiefgehen mit dem neuen Mitbewohner, können immer noch letzte versunkende Bezirke der Altvorderen auf der Suche nach Verwertbarem ausgeleuchtet werden. Irgendwann aber, so ist der Autorin entgegenzuhalten, wenn nichts Eigenes mehr vorhanden ist, nur noch lieblos Überformtes, nur noch achtlos Vertrödeltes und größenwahnsinnig Aufgeblähtes, werden einige Wenige sich an die Öffnung alter Gründerzeittresore machen. Die darin womöglich aufgefundenen Wechsel wird indes niemand einzulösen im Stande sein. Dann wird der letzte Latte macchiato getrunken, das letzte Brot mit Maronenaufstrich gegessen sein. [embed]https://www.youtube.com/watch?v=Jm2TAPhUj_4[/embed] Die Rezension wurde verfasst von Johann Felix Baldig. Er ist Autor im Autorenpool von Detlef M. Plaisier [Der Mann für den Text]. <a href="http://backsplan.net/">http://backsplan.net/ </a>

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