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Rezension zu
Ferne Gestade

"Land der Erinnerung"

Von: Atalante
15.10.2022

Abdulrazak Gurnah erzählt in „Ferne Gestade“, wie die Zeit die Erinnerung zerstückelt und ein Duft sie wieder zusammenfügt. Wie entsteht Erinnerung? Verändert sie sich mit den Jahren? Und was erweckt sie wieder? Abhängig von der Wahrnehmung und der Verarbeitung entsteht im Laufe der Zeit ein autobiographisches Gedächtnis, an dem unsere Phantasie auf nicht unbeträchtliche Weise beteiligt ist. So kann es geschehen, daß zwei Menschen auf gemeinsam Erlebtes oft unterschiedlich zurückblicken. Diese Konstellation liegt auch dem Roman „Ferne Gestade“ des 2021 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Abdulrazak Gurnah zugrunde. Der Roman wurde 2001 erstmals in Großbritannien veröffentlicht, ein Jahr später erschien er in der Übersetzung von Thomas Brückner in Deutschland und wurde nun in revidierter Übersetzung neu aufgelegt. Gurnah kam als Flüchtling aus Sansibar nach England, wo er seitdem lebt. Dieses Schicksal teilt er mit seinen Protagonisten. Der jüngere, Latif Mahmud, war bei der Ankunft wie der Autor kaum erwachsen und wurde ebenso wie dieser Literaturprofessor an einer englischen Universität. Der ältere, Saleh Omar, verlässt Sansibar als alter Mann. Existentielle Verluste und die politischen Zustände haben ihn aus der Heimat vertrieben. Mit Omars Ankunft in Gatwick beginnt der Roman, der wechselweise aus der Perspektive der beiden Protagonisten erzählt wird. Wir begleiten den 65-jährigen, der unter falschem Namen und Verbergung seiner Sprachkenntnisse, im Büro der Einwanderungsbehörde befragt wird. Gerade eben aus einem Unrechtsregime entflohen, erfährt Omar erneut Willkür. Der Beamte konfisziert seinen einzigen Besitz, ein Mahagoniekästchen mit Weihrauch, dessen Duft ihn wie die Proust‘sche Madeleine in die Vergangenheit versetzt. „Ich meinte, im schweren Körper dieses Duftes den Geruch meiner Träume von diesen fernen Gestaden ausmachen zu können.“ In der Folge bleibt er Widrigkeiten ausgesetzt, die schauerlichen Unterkünften, bedrohliche Mitbewohner, tumbe Vermieter und das Fehlen einer Perspektive erträgt er allerdings mit zweckdienlichem Sarkasmus. Vertrauen fasst er einzig zu seiner Betreuerin, die die Verbindung zu Latif, einem Dolmetscher für den vermeintlich Sprachlosen herstellt. Doch bevor die beiden Hauptpersonen des Romans zusammentreffen, deckt Omar seine Lüge auf und verzögert die Begegnung mit Latif, den er aus seinem Leben in Sansibar kennt. Diese spannungssteigernde Retardierung zeigt sich auch in der Erzählweise. Denn wie einst Scheherazade in 1001 Nacht, die der Roman mehrfach zitiert, biegt Gurnah in zahlreiche Nebengeschichten ab, die er fabulierend ausschmückt, ohne den Weg zurück zu verpassen. Sie ranken sich um die Passagen der beiden Ich-Erzähler, die in das „Land der Erinnerung“ zurückblenden. So entsteht ein beinahe mythisches Beziehungsgeflecht zwischen den beiden Figuren, die, wie sich allmählich herausstellt, durch tragische Weise aneinandergebunden sind. Man taucht tief ein in die Verhältnisse des im Umbruch befindlichen Sansibars. Die Moderne kündigt sich an, aber noch gibt es Figuren wie aus 1001 Nacht, geschäftstüchtige Händler und hinterlistige Schurken, schöne Frauen, noch schönere Knaben, geheimnisvolle Ebenholztischchen und hohe Tonkrüge, in denen versteckt sich manches Geheimnis erlauschen lässt. Trotz aller in der Vergangenheit begründeten Gegensätzlichkeit verbindet den Literaturwissenschaftler Latif und Omar, der durch die aufgelösten Bibliotheken der englischen Besatzer zum Leser wurde, eine Gemeinsamkeit, die Liebe zur Literatur. In vielfältigen Anspielungen ruft Gurnah Werke der Weltliteratur auf, neben Homer, der Bibel und dem Koran, Dante, Pepys, Shakespeare und Proust, winkt sogar der zur Erscheinungszeit des Romans äußerst populäre englische Autor Douglas Adams mit dem Handtuch. Latif und Omar entleihen ihren Code der Eingeweihten jedoch einer älteren bis heute berühmten Figur der englischen Literatur, dem Schreiber Bartleby. Dass der berühmte Satz von Melvilles Figur, „I would prefer not to“, zwei Lesern aus fernen Gestaden gefällt, während die eingeborene Engländerin ihn nicht einmal kennt, könnte man als Treppenwitz dieses Romans bezeichnen. „Ferne Gestade“ erzählt von Erinnerung und Sehnsucht, von Afrika und Europa, zeigt den chauvinistischen Blick der Europäer ebenso wie die Diskriminierung im Ursprungsland seiner Figuren. All dies gelingt Abdulrazak Gurnah mit Fabulierlust, präzisen Beobachtungen und feinem Humor.

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