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Rezension zu
Der Markisenmann

Über die Schuld (k)ein Vater zu sein

Von: literaturnova
21.07.2022

Über die Schuld (k)ein Vater zu sein Rezension zu Jan Weilers »Der Markisenmann« »Mein Vater war vielleicht einer der letzten seiner Art, und auch wenn seine Arbeit eine selbst auferlegte Strafe war, so ging er ihr mit einer Freude und einer Demut nach, die man sich nur erklären kann, wenn man versteht, was es bedeutet, eine Strafe anzunehmen. Es heißt unter Umständen, sie sich zur Lebensaufgabe zu machen. Sie abzutragen wird zum Beruf. Und warum sollte man diesen nicht mit Freude absolvieren?« (S. 250) Behütet doch deplatziert. Kim ist noch mitten in der Pubertät. Um genau zu sein: sie ist fünfzehn Jahre alt. Sie wohnt mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und ihrem Halbbruder in einem großen Haus, mitten in einer wohlhabenden Gegend. Wer sich hier niederlassen kann, muss wirklich reich sein. Und wenn es einer ist, dann ihr Stiefvater. Abgesehen davon hat das Leben in dieser Umgebung für Kim wenig Gutes. In der Schule rutscht sie immer weiter ab und ihr Stiefvater Heiko lässt sie bei jeder Gelegenheit spüren, dass sie doch nicht so richtig zur Familie gehöre, dass sie das schwarze Schaf sei und er von ihr zwar nichts erwarte, trotzdem aber immer wieder enttäuscht würde. So lebt sie Tag für Tag mit der Last, in ihrer eigenen Familie nicht gewollt zu sein. Diese Last ist erdrückend und eines Abends explodiert sie einfach. Aus dem Nichts, Kim selbst hatte es nicht geplant, es war keine Absicht. Es passierte einfach und zerbrach den letzten Rest familiären Halt, den sie noch hatte. Den Unfall, der ihrem kleinen Bruder beinahe das Leben gekostet hätte, wird sie nie vergessen. Ihre Schuld wird sie, trotz seines Überlebens, nie abschütteln können. Nebenbei neigt sich auch das Schuljahr seinem Ende entgegen und lädt zur familiären Urlaubsplanung ein. In die Vereinigten Staaten solle es gehen, Heiko habe schon alles gebucht und bezahlt. Es ist eine Mischung aus Urlaub und Arbeitsreise. Doch Kim wird nicht fliegen. Als ihre Mutter es ihr erzählte, war es für beide keine leichte Unterhaltung. Aber Heiko hatte entschieden und ein solches Urteil duldete keinerlei Verhandlung. Es stand fest. Kim verbrachte ihre Ferien in Deutschland, allerdings nicht allein... Der verschwommene Vater. Sie hat ihn nie kennen gelernt, er hat sich nie bei ihr gemeldet, nie zum Geburtstag gratuliert, ihr nie eine Weihnachtskarte geschickt. Auf dem einzigen Bild, das von ihm existierte, steht er verschwommen da, sodass in ihrem Kopf für immer eine verschwommene, unnahbare Gestalt die Rolle des biologischen Vaters einnahm. Und genau zu diesem Mann sollte sie nun für sechs volle Wochen ziehen. Sie fuhr mit dem Zug und er holte sie vom Bahnhof ab. Die ersten Momente waren komisch, beide waren mehr als überfordert mit der Situation und Kim wusste schnell, sie müsse sich einen Weg zu Flucht suchen, nie im Leben würde sie ihre Ferien bei diesem fremden Mann verbringen. Auch als sie sein Haus sah, rutschte der Schreck tiefer in ihren jugendlichen Körper. Er lebte mitten im Gewerbegebiet, in einer alten, heruntergekommenen Lagerhalle. Dort hatte er ein kleines, fensterloses Zimmer für sie eingerichtet, garniert mit einem Regal voller Schrauben und Nägel. Das liebevolle Ferienhaus der nächsten sechs Wochen. Doch nach und nach kamen beide ins Gespräch. Sie lernten sich kennen, trotz der Distanz, die zwischen ihnen herrschte. Sie erfuhr auch grob, warum dieser Mann, der ihr Vater war und Ronald Papen hieß, in diesem Lagerhaus lebte: Er arbeitete hier und Ronald Papen ist ein funktionaler Geschäftsmann, der sich eine Miete sparen kann, indem er einfach in seinem Ein-Mann-Betrieb lebt. Und so tat er es seit vierzehn Jahren und brachte seine erstaunliche Ware an die Menschen des Ruhrgebiets: Markisen. Aber keine neuen, gutaussehenden. Nein, Ronald Papen verkaufte einen gigantischen Altbestand an unsagbar hässlichen DDR-Markisen in zwei Varianten: Version »Mumbai« in einer Vermischung aus Braun, Orange und Gelb, sowie Version »Stockholm«, eine Musterung aus Gelb, Blau und Grün. Eines hässlicher als das Andere, verkaufte er immerhin knapp über zwanzig dieser Ungetüme. Innerhalb der letzten vierzehn Jahre... Dass ihr Vater ein erfolgloser Geschäftsmann sondergleichen war, begriff Kim innerhalb von Minuten. Doch in den kommenden Wochen wurde aus seinem Markisenhaufen das Fundament einer Beziehung, die eigentlich fünfzehn Jahre Verspätung hatte. Doch Ronald Papen wäre nicht Ronald Papen, wenn er gegen jede Widrigkeit dem Schicksal trotzen und das Beste aus seiner Gesamtsituation machen würde. Denn eines steht fest: So leicht gibt ein Ronald Papen nicht auf. Und Kim, tja. Die erlebte trotz allem den besten Sommer ihres Lebens! Die Überraschungen des Unbekannten. »Der Markisenmann« ist in erster Linie eines: eine sensationelle Überraschung. Das Cover in hässlichstem Markisenmuster gehalten und unfassbar unästhetisch. Ein perfektes Beispiel dafür, dass man sich nicht immer nur auf das Cover verlassen kann. Denn hinter diesem steckt ein Buch voller Gefühl und Tiefe, die niemand erwarten würde. Im Fokus der Erzählung steht Kim selbst, die sich Jahre später an eben jenen Sommer erinnert. Obwohl es ihre Perspektive ist, weiß sie als Erzählerin doch mehr, als sie als Charakter wissen kann. Dieser kleine Fehler wird aber schnell verziehen. Denn das Buch zieht einen hinein in das Leben des pubertierenden Mädchens, das sich nun plötzlich mit einem Vater herumschlagen muss, der vorher scheinbar nie Interesse an ihr zeigte. Es ist keine freiwillige Kontaktaufnahme, sondern Ergebnis eine ausweglosen Situation, derer sich beide nicht entziehen können. Und weil sie sich nicht entziehen können, nehmen sie ihr Schicksal an. Sie ertragen es auf die Papen-Art. Sprachlich ist das Buch punktgenau geschrieben: Aus der Sicht der Erwachsenen Kim, die zurück auf den Sommer blickt, der ihr einen Vater schenkte. Es ist eine Mischung aus der ablehnenden Sprache einer Jugendlichen, kombiniert mit der Herzlichkeit und Liebe einer Tochter zu ihrem Vater. Das Buch ist, anders als es auf den ersten Blick vermuten lässt, bis zum Rand gefüllt mit Emotionen und Fingerspitzengefühl. Jan Weiler scheint ein wahres Gespür dafür zu haben, an welchen Stellen er den Lesenden die Tränen in die Augen treibt und wann er sie zum Lachen bringt. Beides ist ihm wunderbar gelungen. Im besonderen Maße muss der Erzählstrang hervorgehoben werden, der die verschiedenen Ebenen der Geschichte verbindet und auf großartige Weise aus einem Strang mehrere formt, um sie am Ende wieder zusammen zu bringen. Die Mischung aus jenem Sommer in den frühen 2000er Jahren, gepaart mit der Geschichte des jungen Papen, Kims Mutter und ihrem Stiefvater Ende der 1980er Jahre, die sich mit dem Zusammenbruch ihrer einstigen Heimat konfrontiert sahen, ist grandios gelungen. Beide Geschichten sind so fein miteinander verknüpft, dass sie ein kompaktes neues Gesamtwerk ergeben. Das Fazit. In beeindruckender Art ist es Jan Weiler gelungen, eine Geschichte zu erzählen, die mich vollumfänglich überrascht und gepackt hat. Ohne Erwartungen öffnete ich das Buch und konnte es lange Zeit nicht aus den Händen legen. Sogwirkung ohne Ende, Figuren, die mit fortlaufender Erzählung immer sympathischer werden und deren Entwicklung als Charakter deutlich zu spüren ist und das Verweben von Geschichte und Gegenwart. Eine ganz große Gesamtkomposition und ein absolutes Highlight. Schlicht und ergreifend lesenswert. Bei diesem Buch handelt es sich um ein vom Heyne Verlag in Kooperation mit dem Bloggerportal zur Verfügung gestelltes Rezensionsexemplar. Das Buch erschien im März 2022 im Heyne Verlag.

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