Sie haben sich erfolgreich zum "Mein Buchentdecker"-Bereich angemeldet, aber Ihre Anmeldung noch nicht bestätigt. Bitte beachten Sie, dass der E-Mail-Versand bis zu 10 Minuten in Anspruch nehmen kann. Trotzdem keine E-Mail von uns erhalten? Klicken Sie hier, um sich erneut eine E-Mail zusenden zu lassen.

Rezension zu
Effingers

Weit mehr als ein Familienroman

Von: Buchbesprechung
24.11.2020

REZENSION – Weit mehr als nur eine Geschichte über Aufstieg und Fall einer großbürgerlich-deutschen Familie ist der 1951 erstmals veröffentlichte und jetzt als Taschenbuch im btb-Verlag erschienene Roman „Effingers“ von Gabriele Tergit (1894-1982). Deshalb wird ihm der gelegentliche Vergleich mit den „Buddenbrooks“ von Thomas Mann nur im Ansatz gerecht. Denn im Grunde ist „Effingers“ eine detaillierte Gesellschaftsstudie jüdischen Lebens in Deutschland in seinen so verschiedenen Facetten und Strömungen von der deutschen Revolution 1848 über das Kaiserreich, zwei Weltkriege und den Holocaust bis zum Neubeginn im Jahr 1948. Aufklärung und Revolution hatten den Juden in Deutschland neue Freiheiten und Aufstiegsmöglichkeiten verschafft. Dennoch blieb die erhoffte Gleichstellung mit den christlichen Mitbürgern aus. Antisemitismus wurde als gegeben hingenommen, die Juden blieben weiterhin unter sich und verheirateten sich untereinander. So ehelichte der Uhrmachersohn Paul Effinger aus dem fränkischen Städtchen Kragsheim, in den 1880er Jahren in Berlin zum Fabrikanten geworden, die Bankierstochter Klärchen Oppner, deren Vater Emmanuel Oppner einst in das Privatbankhaus Goldschmidt eingeheiratet hatte, das seitdem als Oppner & Goldschmidt firmierte. Die Berliner Privatbank war von Markus Goldschmidt gegründet worden, der 1848 als junger Mann auf den Barrikaden für Freiheit und Gleichheit gekämpft hatte und im Pariser Exil ins Bankgeschäft eingestiegen war. Zunächst lernen wir die gesellschaftlichen Unterschiede innerhalb des deutschen Judentums in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kennen: Da leben die wohlhabenden Berliner Bankiersfamilien Oppner und Goldschmidt in riesigen Villen, feiern Maskenbälle und gründen Wohltätigkeitsvereine. Sie gehören der weltlich-humanistisch gebildeten Oberschicht an, deren Judentum nur noch Tradition, aber kein Glaubensbekenntnis ist. Klärchens Ehe mit Fabrikant Effinger kommt einem gesellschaftlichen Abstieg gleich, ist doch Paul nicht „nur“ ein Kaufmann, sondern Sohn eines einfachen Handwerkers. Uhrmacher Matthias Effinger, steht im Roman für den gläubigen, einfachen Juden, der noch allmorgendlich zum Gebet in die Synagoge geht und nach jüdischem Ritus lebt. Doch selbst ihn stören die aus Osteuropa eingewanderten orthodoxen Juden. Der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung nach dem 1. Weltkrieg ermöglicht einerseits den jungen Frauen der Familien eine gewisse Selbstbestimmung, sie werden berufstätig wie die Schauspielerin Sofie Goldschmidt und die Frauenrechtlerin Marianne Effinger oder studieren wie Cousine Lotte. Doch andererseits beginnt der soziale Fall der Familien mit dem baldigen Verlust des Vermögens durch die Inflation und endet in völliger Enteignung und Vernichtung durch die Nazis. Marianne und Lotte, in deren Figur man die Autorin Gabriele Tergit erkennen kann, worauf Herausgeberin Nicole Henneberg in ihrem 13-seitigen Nachwort neben weiteren biografischen Parallelen zu Tergits Ahnenfamilien hinweist, beginnen in Palästina ein neues, völlig anderes Leben. Stilistisch spürt man die journalistische Prägung der Autorin, die in der Weimarer Republik eine bekannte Gerichtsreporterin war: Kurze Kapitel und nicht allzu lange Sätze sorgen trotz der 900 Seiten für leichte Lesbarkeit, die angehängte Stammtafel ermöglicht Übersicht und Zuordnung der vielen Personen aus vier Generationen. Der historische Wandel eines ganzen Jahrhunderts mit markanten Daten und Fakten, der Beschreibung jüdischer Tradition und Riten und Schilderung von Aufstieg und Fall der Effingers, Oppners und Goldschmidts wird in kurzen Szenen, in Dialogen und Gesprächen im Familienkreis lebendig wiedergegeben. So wirkt „Effingers“ auch 70 Jahre nach der Erstveröffentlichung noch immer als moderner Roman, der in heutiger Zeit eines wieder erstarkenden Antisemitismus nichts an Aktualität verloren hat und deshalb auch für jüngere Leser als Lektüre zu empfehlen ist.

Wir stellen nicht sicher, dass Rezensent*innen, welche unsere Produkte auf dieser Website bewerten, unsere Produkte auch tatsächlich gekauft/gelesen haben.