Sie haben sich erfolgreich zum "Mein Buchentdecker"-Bereich angemeldet, aber Ihre Anmeldung noch nicht bestätigt. Bitte beachten Sie, dass der E-Mail-Versand bis zu 10 Minuten in Anspruch nehmen kann. Trotzdem keine E-Mail von uns erhalten? Klicken Sie hier, um sich erneut eine E-Mail zusenden zu lassen.

Rezension zu
Die Glücklichen

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

DISPO FEVER // Kristine Bilkau, Die Glücklichen

Von: Sonja Grebe
28.04.2015

Ich liebe dieses Buch – und ich hasse es. Es ist so nah an mir dran, am Privaten, am Erlebten, es spricht mir oft aus der Seele, tritt mir auf die Füße, tut mir gut, macht mich traurig, und es regt mich auf. Wo soll ich nun anfangen? Isabell und Georg, ein alternativ-bürgerliches Großstadtpärchen, das sich mit Kleinkind Matti inzwischen ins Familienleben gewagt hat – das sind hier die Glücklichen. Eine Stichwortwolke: Altbau, Dinkelpulver, Adagio, Süßkartoffelmedaillons, Seidenpapier, Wertigkeit, Biokiste, Petit Fours, Parkettboden, Globuli, Glockenrock, Kinderboutique, Makler, Maronencreme, leichthändig, Engagements, Kaschmirstrickjacke, Veggieaufstrich, Stil, Expertise, Yogastudio, Dufflecoat, Konferenzsitzung, Hutmacherei, Babyschwimmen, Alpaka-Decke, geschmackvoll, Fitnessstudio, Sushi, Nachhaltigkeit, Hotelzimmer, Persönlichkeit, ausgewogen, Kronleuchter. Isabell ist Berufsmusikerin, Cellistin, Georg arbeitet als Journalist für eine große Zeitung. Unausgesprochen, aber eindeutigen Hinweisen nach zu urteilen ist Hamburg ihr Zuhause, übertragbar sind die Ortsbeschreibungen jedoch auf jede beliebige großstädtische beste Wohnlage. Die junge Familie lebt idyllisch-urban im begehrten Altbauviertel, die wunderbare Wohnung besitzt Charakter, Blumenläden heißen hier Floristenwerk, Bäckereien nennen sich Manufaktur. So weit, so gut durchgekaut. Als ich zu lesen beginne, möchte ich das Buch schon gleich wieder weglegen: Plakativ wie irgend möglich werden jene Marker für gentrifizierte Strukturen angebracht, als müsse ein feststehender Begriffskatalog abgearbeitet werden – da ist er ja promt, dieser nervtötende bürgerliche Genauigkeitswahn -, und dann geht es eingangs auch noch hinein in die Gedankenwelt einer Cellistin, deren Hände neuerdings vor ihren Einsätzen im Orchester zu zittern beginnen. Ach, lasst mich doch alle in Ruhe mit euren Luxussorgen! Aber Kristine Bilkau gräbt tiefer, der Eindruck von Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit verflüchtigt sich zu Gunsten des Gedankens, dass da eine Autorin sehr gewissenhaft das Sittengemälde einer bestimmten Schicht zu einer bestimmten Zeit zeichnet – ein Portrait, das so detail- und symbolbeladen ist, dass sich in dreißig Jahren, wenn man dieses Buch erneut aufschlägt, dieser dann vergangene gesellschaftliche Moment haarklein zum Leben wiedererwecken lassen wird. Was Bilkau aus den Betulichkeiten einer Wohlstands-Familie herausarbeitet, sind die rissigen Schichten unterhalb der wertigen Oberfläche, die auf einen großen Bruch hinarbeiten. Für Isabell und Georg werden diese Risse zunehmend sichtbar, der Putz wackelt, Reparaturen werden nötig. Aber können behütete Kulturmenschen so was überhaupt, ist Dinge zu reparieren nicht eher eine Sache für Handwerker? Zuerst treten die Risse in der Fassade ihres Altbauwohnhauses zu Tage. Isabell stört sich an der Bauplane, die den Räumen die Aussicht nimmt, und an der Dauergegenwart der Handwerker, deren Lärm die Heimeligkeit der Wohnung und den sorgsam getakteten Tagesablauf mit Matti stört. Als sie einen der Handwerker vor ihrem Fenster etwas platt fragt, was er da den ganzen Tag so werkele, erzählt er ihr von den Rissen, den oberflächlichen und den versteckten, den harmlosen und den fatalen, wie man sie entdeckt, unterscheidet, und was man dann tut. Die verblüffte Isabell bringt dem Herren dafür glatt einen Kaffee ans Fenster. Auf anderen Ebenen gilt es ebenfalls die Lehre von den Rissen anzuwenden: Nach der Babypause findet Isabel nur schwer in ihren Berufsalltag zurück, ein Zittern schleicht sich in ihre Finger, durchzieht ihren Arm, versetzt sie in innerliches Beben. Was sie anfänglich zu verstecken versucht, tritt mit unbarmherziger Stärke immer sicht- und vor Allem hörbarer zu Tage und bedroht schließlich ihre berufliche Existenz. Georg, dessen Redaktionstätigkeit von solider Routine geprägt ist, schnappt irgendwann zufällig ein Gerücht auf, dass sich nach und nach zu einem handfesten Verdacht auswächst: Die Zeitung – eigentlich eine feste Mediengröße – bleibt vom großen Printsterben nicht unberührt, sie strauchelt. Der Verdacht wird zur Erwartung, schließlich zur Gewissheit: Stellenabbau. Beide betrachten hilflos die Auflösung ihrer beruflichen Identität, und beinahe umfasst dieser Erosionsvorgang auch die Auflösung ihrer Ehe. Das Geld, der Motor aller Leichtigkeit, fehlt plötzlich. Der Geldmangel wird zum Ausgangspunkt eines Risses, der Isabel und Georg sowohl als Personen als auch als familiäres Gefüge massiv destabilisiert. Naiv sind die beiden von Beginn an nicht, sie wissen genau, dass ihr Lebenswandel nur ab einer bestimmten Summe Gehaltseingang funktioniert. Die Liebe in Zeiten der Staffelmiete: ohnehin nicht einfach. Sicherheit bedeutet finanzielle Sicherheit, Zufriedenheit bedeutet finanzielle Zufriedenheit, Zukunft bedeutet finanzielle Zukunft – wie verhält es sich mit dem Glück? Wenn Perfektion zum Standard geworden ist, und Geld alles absichert, auch die emotionale Perfektion – wie geht man dann mit einem Absturz um? Bilkau zeichnet diesen Absturz in dokumentarisch wirkendem Stil nach. In kleinen Alltagsschilderungen protokolliert sie den stufenweisen Verfall einer kontrollierten Wohlfühlwelt. Zwischen Isabell und Georg, die einander ehrlich lieben, schiebt sich plötzlich Unausgesprochenes: Jeder für sich wissen sie nicht mit ihren Ängsten umzugehen, verkapseln sich in Schweigen, treten einander immer verunsicherter und gereizter gegenüber. Dort, wo es unter Pärchen etwas gründlicher kracht, wird unter Eltern oft weitergeschwiegen, dem Kind zuliebe – ein Druckkessel. Zweite Stichwortwolke: erschöpft, Schmerzen, verkrampft, Abgrund, dünnhäutig, Dispo, Verlust, teuer, Discounter, Mieterhöhung, Minderwertigkeit, disqualifiziert, verschuldet, verzichten, Bewerbungen, Abschied, Verlierer, Ende, Grau, Kostenfaktor, sparen, Tränen, egal, unglücklich, billig, bezahlbar, Herzrasen, Kalkulation, ausdruckslos, schuldig, Krankheit, verwundbar, Theatralik, Schwermut, Desinteresse, Geld, abgewiesen, zahlen, Drohung, Drama, verrückt, Trennung, Last, kläglich, nötig, Grummeln, beschädigt, Konto, Kredit, Ohrensausen, beschützen, gnadenlos, Mitleid, frustriert, abwarten, warten, Leere, Defekt, Enttäuschung, Aus. Während dieses Vokabular ihr Umfeld, ihre Sprache und ihre Gedanken zu beherrschen beginnt, beschäftigen sich Isabell und Georg obsessiv mit ihren voneinander unabhängigen Fantasiewelten: Isabell stolpert im Internet über eine Familie, die ihr unsäglich perfektes Leben in wunderschönen Fotos teilt, teilt, teilt, und sie kann es nicht lassen diesen Beiträgen zu folgen, obwohl sie sie quälen. Georg forstet sich zwanghaft durch unbezahlbare Maklerangebote, Landhäuser, Resthöfe, abgelegene, naturverbundene Refugien, und träumt sich durch diffuse Aussteigerszenarien. Aber wie geht aussteigen? Mit verschiedenen Varianten von Ausstieg werden beide konfrontiert. Georg besucht einen Aussteiger auf dessen Ökohof, einen ehemaligen Verpackungsdesigner, der sich nach der Insolvenz seiner einst extrem erfolgreichen Firma radikal neu erfunden hat: Tierhaltung, Ackerbau, Selbstversorgung, blutjunge neue Freundin. Aber Georg misstraut der Wollpullover-Utopie, er erkennt, dass er hier nicht die gesuchte Sicherheit findet, sondern nur neue (finanzielle) Risiken. Isabell, die sich verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrer Musiker-Misere sehnt, wird Zeugin einer zwischenmenschlichen Explosion in ihrem Orchester, die die Karriere eines Kollegen von einer Sekunde zur anderen beendet. Doch anstatt Empathie bei ihr auzulösen, bewirkt dieser Knall bei Isabel einen stumpfen Schock. Und schließlich ein Todesfall in der Familie – Isabell und Georg stehen plötzlich vor der direkten Antwort auf die Frage Was bleibt?, und diese Antwort ist ernüchternd. Oder vielleicht doch nicht? Welches Ende die Geschichte um Isabel, Matti und Georg nimmt, wird nicht vollends verraten. Ob Glück, Liebe und Hoffnung sich erstens von ihrer Überidealisierung, zweitens von ihrer Abhängigkeit vom Monetären emanzipieren können, muss man während der abschließenden Kapitel für sich beantworten. Ein Roman, den man unbedingt als Selbsttest lesen sollte, auch oder gerade, wenn er schmerzhaft an innere Risse rührt.

Wir stellen nicht sicher, dass Rezensent*innen, welche unsere Produkte auf dieser Website bewerten, unsere Produkte auch tatsächlich gekauft/gelesen haben.