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Rezension zu
Die Glücklichen

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Kristine Bilkau: Die Glücklichen

Von: Claudia Hildebrand
16.04.2015

Da ist er also – fast könnte man sagen: endlich. Der Roman, der, ganz aktuell, die Unsicherheiten, Sorgen und Ängste einer jungen Familie zeigt, die zwischen ihren familiären Wünschen, ihren Lebensträumen und Werten, und den Ansprüchen einer auf Effizienz und Kostenoptimierung gedrillten Berufswelt zu scheitern droht. Und sie erzählt, wie Leistungsdruck, die notwendige Anpassung an die gegebenen Bedingungen, der Zwang zur Selbstoptimierung, zum bestmöglichen Verkaufen der eigenen Qualitäten, die beiden Protagonisten langsam aber stetig vergiftet, so weit, dass sie sich selbst zu verlieren scheinen. Georg, Isabell und der einjährige Matti leben in einem alten Haus, aus der Jahrhundertwende, in das Isabell vor fünfundzwanzig Jahren schon mit ihrer Mutter eingezogen ist. Isabell liebt ihren Stadtteil, kennt alle Straßen und Parks, hat Erinnerungen an Einkäufe mit ihrer Mutter in der Nachbarschaft, an das Spielen mit Freundinnen, ihren ersten Kuss. Sie hat aber auch miterlebt, wie die kleinen Fachhändler, die Handwerker mit ihren Produkten und Dienstleitungen schließen mussten, wie in jüngster Zeit neue Läden entstanden, die jetzt mit dem Anhängsel „Manufaktur“ oder „Werkstatt“ trotz höherer Preise alle Kunden auf sich ziehen und dem letzten alteingesessenen Bäcker den Garaus machen. Sie hat gesehen, wie die anderen Häuser renoviert und mit freundlichen Farben gestrichen werden, „in Hellblau, Lindgrün, und aufreizendem Himbeerrot, mit weißen Ornamenten, nach und nach herausgeputzt während der letzten Jahre“. Nun wird auch ihr Haus renoviert, seit Wochen hängt eine Plane am Haus herunter, schirmt die eigene Wohnung von der Außenwelt ab: Die milchige Hülle macht die Wohnung zu einem verborgenen Raum, sie verbreitet ein Höhlengefühl. Tagsüber filtert sie das Licht und lässt es geschwächt in die Zimmer, nachts ist sie wie ein schützender Mantel. (S. 9) Ein bisschen fühlt Isabell sich wohl in ihrem eingerüsteten Haus, wie Matti vor einem Jahr in ihrem Bauch, gedämpft nur die Eindrücke, die von außen kommen, die Realität ein gutes Stück entfernt. Aber die Veränderungen sind schon da: Die Renovierung wird eine Mieterhöhung nach sich ziehen und seit Isabell wieder arbeitet, als Cellistin in einem Musical, ist die gemeinsame Zeit als kleine Familie auf einen Tag in der Woche zusammengeschmolzen. An jedem anderen Tag wartet Isabell darauf, dass Georg aus seiner Redaktion nach Hause kommt, schon packt sie ihren Cellokasten und eilt in ihre Vorstellung. So ist zwar Matti rundum liebevoll versorgt, auf die Dauer zufriedenstellend ist diese Form des Familienlebens für Georg und Isabell sicher nicht. Und es gibt ja noch ein weiteres Problem: Seit kurzem – seit ihrer Rückkehr nach der Elternzeit? – zittern Isabells Hände beim Spielen. Nicht, wenn sie zu Hause spielt, für sich, für Matti, dann ist sie eins mit ihrem Instrument, eins mit der Musik. Aber bei Auftritten, passiert es immer häufiger, erst bei ihrem Solo, und dann wird es Tag für Tag schlimmer. Isabell fühlt schon die Blicke ihrer Musikerkollegen auf sich, sie kann sich gut vorstellen, was sie hinter ihrem Rücken reden, dass sie es nämlich nicht schafft, nicht mehr auf der Höhe ist, nicht mehr gut genug. Sie recherchiert im Netz, findet neurologische Erkrankungen, die gerade Musiker befallen, weiß aber eigentlich genau, dass das nicht ihr Problem ist, weiß, dass sie mit der Aufregung, mit dem Stress nicht umgehen kann, dass sie dünnhäutiger geworden ist, seit Mattis Geburt. Sie schweigt über ihre zitternden Hände; so lange sie schweigt, ist es nicht wahr. Auch Georg, der Journalist, ahnt, dass etwas in der Luft liegt. Er träumt vom Aussteigen, sucht stundenlang im Internet günstige Bauernhöfe weit draußen auf dem Land, bevölkert die Räume in seiner Fantasie mit seiner Familie und versucht zu erfühlen, wie es wäre, dort zu wohnen. Seinem Ressortleiter Matthias schlägt er eine Artikelreihe vor, in der er solche Aussteiger mit ihrem Lebenskonzept vorstellt und besucht als erstes einen ehemaligen Verpackungsdesigner internationaler Marken auf seinem Selbstversorgerbauernhof. Der hält sich nicht nur mit dem Anbau des eigenen Obstes und Gemüses über Wasser, sondern bietet auch in der Nachbarschaft Webdesign an, seine Freundin verkauft selbstgemachte Marmeladen und Cremes an Feinkostläden und Kinderboutiquen. Und genau hier, bei Björn auf dem Land, wird Georgs Sorge, dass es mit seiner Zeitung, die so wenig angepasst ist an die neue digitale Zeit, so nicht weitergehen kann, zur Gewissheit, denn Björn findet im Internet die Meldung, die Zeitung werde geschlossen oder verkauft. Und auch Isabells Engagement wird nicht verlängert – mal davon abgesehen, dass sie sich wegen der zitternden Hände hat krankschreiben lassen. Die Einrüstung des Hauses wird abgebaut, das Haus passt in seinem schönen Gelb zu den anderen Häusern, die Welt draußen erscheint nun nicht mehr in diffusem, milchigem Licht. Die Mieterhöhung kommt, Isabell macht eine lange Ergotherapie und Georg eilt von Bewerbungsgespräch zu Bewerbungsgespräch. Die beiden fangen an, sich zu beobachten, zu belauern; Georg nervt, dass Isabell weniger und weniger mit ihm spricht, Isabell kann Georgs missmutiges Gesicht nicht mehr sehen; Isabell meint, Georg werfe ihr vor, sich nicht genug anzustrengen, dann würde es auch mit einem neuen Engagement klappen, Georg denkt, Isabell sehe mehr und mehr einen Versager in ihm, weil er keinen neuen Job findet und ihr zumutet zu sparen. Ihr kleines privates Glück beginnt sich im Schweigen, in wenig unterdrückten Vorwürfen, manchmal gar im Streit aufzulösen. Kristine Bilkau ist ein grandioser Roman gelungen, der zeigt, welchen massiven Einfluss die gesellschaftlichen und beruflichen Anforderungen haben auf das Private. Sie veranschaulicht damit die theoretischen Überlegungen, die Byung-Chul Han in seinem Essay „Psychopolitik“ dargelegt hat. Ihre Figuren zeigen, wie brüchig die Lebensentwürfe sind, wie schnell sie scheitern können. Isabell, die Musikerin, die den Beruf gewählt hat, der zu ihr passt, ihr Spaß und Befriedigung bereitet, kommt mit dem Druck, immer die volle Leistung bringen zu müssen, nicht zurecht; ihre Emotionen spielen ihr einen Streich. Und Georg, auf den die Eltern so stolz gewesen sind, weil er studiert hat, als Akademiker doch ganz andere Möglichkeiten hat als sie mit ihrem Elektrofachgeschäft, scheitert, weil er in einem Beruf, in einem Unternehmen gelandet ist, dass sich eben gerade nicht auf die neuen Entwicklungen eingestellt hat. Isabell und Georg leiden, jeder auf seine Weise, unter dem Zwang, sich immer wieder zu optimieren, sich immer wieder an die Umweltbedingungen anzupassen, immer wieder zu agieren, als seien sie Unternehmer mit vielen anderen Wettbewerbern um sich herum, auch eine Last werden kann, zur Krankheit führt, weil Isabell sich den Anforderungen nicht mehr stellen kann, zum Gefühl ein Verlierer zu sein, weil kein passendes Jobangebot kommt. Und so wird gerade für Georg die eigene Arbeitssuche auch zu einer Auseinandersetzung mit seiner Haltung als Journalist. Als er ausgerechnet bei einer Luxusimmobilienmaklerin sitzt, die Kundenmagazin und ein Mitarbeitermagazin – „Das Büro in Rio de Janeiro soll die Erfolge der Kollegen in Sydney kennen“ – herausgeben möchte, da kann er seinen Ekel kaum noch zurückhalten – und weiß doch, dass er sich aus ökonomischer Sicht diese Haltung nicht leisten kann, dass er mit dieser Haltung zum „Ladenhüter“ wird, zum „Inanspruchnehmer“ sozialer Leistungen. Laufbahn, Laufen, auf der für ihn bestimmten Bahn, ein Sprint, nein, ein Langstreckenlauf, bei dem ihm jetzt schon die Luft ausgeht. Sein Leben besteht aus Etappen, die vor allem davon geprägt sind: ständig zu spät zu kommen. Zu spät geboren zu sein, um den digitalen Wandel und die fragilen Kapitalmärkte als exotische Kosmen irgendwie, weit weg zwar, wahrnehmen dürfen, aber sie nicht sofort aufs eigene Leben, auf die höchstpersönliche Existenz in den eigenen vier Wänden beziehen zu müssen. Zu spät, um an einen Beruf glauben zu dürfen, ohne Angst vor Zahlen und Umstrukturierungen. Wie gut hatten es die alten Kollegen noch. Sie strahlten diese Sicherheit aus, den richtigen Job gewählt zu haben. Im Sommer ging´s ins eigene Landhaus, Provence oder Toskana, und die Rente war auch komfortabel. (S. 123) Bilkaus Figuren machen ganz deutlich, was es heißt, sich dieser Situation zu stellen. Die Autorin erzählt die Geschichte ihrer sehr komplexen Figuren auch sprachlich und konzeptionell überzeugend. Und sie zeigt auch einen Ausweg, einen kleinen Hoffnungsschimmer zumindest auf. Und so liegt er endlich vor, der Roman zur Zeit, der Roman, der die – fast möchte man sagen: ganz normalen, aber so viele Familien betreffenden – Nöte und Sorgen zeigt. Kristine Bilkau (2015): Die Glücklichen, München, Luchterhand Literaturverlag Das Leseexemplar habe ich beim Verlag angefordert.

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