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Rezension zu
Nichts, was uns passiert

Vergewaltigung passiert anderen Leuten. Nicht uns. Aber was, wenn doch?

Von: Koreander.net
10.10.2019

Es ist Sommer. Es ist Fußball-WM. Überall wird ausgelassen gefeiert. Besonders im universitären Umfeld wird die vorlesungsfreie Zeit ausgelassen genutzt. Es gibt reichlich Alkohol. Die Leute haben Spaß. Es wird geflirtet, es gibt Trinkspiele, Deutschland wird Weltmeister und Anna wird vergewaltigt. Bettina Wilperts Debütroman kommt gerade rechtzeitig zur #metoo Debatte. Und so liest man das Buch unwillkürlich als Debattenbeitrag, der als Roman daherkommt. Oder ist es ein Roman, der einen Debattenbeitrag liefert? Unzweifelhaft ist es ein Roman wider die Verflachung und Banalisierung des Diskurses. Während die Herrschaften darüber diskutieren, dass man ja nun Frauen keine Komplimente mehr machen dürfe, legt Wilperts den Finger zurück in die Wunde. Mehr noch, es ist ein Debüt, dass sich nicht scheut, Salz in die Wunden der ach so aufgeklärten und emanzipierten Gesellschaft zu streuen. Was bedeutet es für eine Frau vergewaltigt worden zu sein? Wilpert nimmt sich alle Vorurteile, Ressentiments und Stereotype vor und verarbeitet sie literarisch. Dabei verortet sie die Protagonisten in einem vermeintlich liberaleren und empathischeren universitären Umfeld. Damit nicht genug, handelt es sich auch noch um eine linke Szene im Umfeld des Leipziger Stadtteils Connewitz, der seit dem Überfall von über 200 Rechtsradikalen im Januar 2016, traurige bundesweite Berühmtheit erlangte. Und selbst in dieser Peergroup, die sich herrschaftskritisch und damit auch feministisch-emanzipatorisch geriert, laufen die brutalen gesellschaftlichen Mechanismen ab. Wurde Anna überhaupt vergewaltigt? War es nicht viel eher einvernehmlicher Geschlechtsverkehr, wie Jonas aussagt? Ist Anna nicht eh ziemlich schnell ins Bett zu bekommen? Außerdem betrinkt die sich doch auf allen Partys. Kann die sich überhaupt richtig erinnern? Kann man Anna glauben? Jonas ist so ein sensibler, netter Typ. Der, ein Vergewaltiger? Kann das sein? Und überhaupt, ist nicht der Alkohol Schuld? So wenig wie es irgendjemand außer den Beteiligten wissen kann, was wirklich passiert ist, so wenig wissen auch die Leser*innen. Wilpert spielt und reizt mit dem Unwissen, dem unguten Gefühl, der Ambivalenz. Opferschutz muss vor Täterschutz gehen. Aber reicht bereits die Anklage oder bedarf es eines richterlichen Beweises? Wie positioniert man sich, wenn man überhaupt nicht weiß, was passiert ist. Vergewaltigung ist solange ein theoretisches Problem, bis es in den Freundeskreis einbricht. Denn ansonsten gilt, wie es so häufig bei emotional anstrengenden Themen gilt: Es passiert anderen Leuten. Es ist nichts, was uns passiert. Bettina Wilpert legt ein schwermütiges Debüt vor. Es ist ein wichtiges Debüt. Ein Roman über den man diskutieren kann und muss. Hier wird das Versprechen eingelöst, dass Literatur nicht lediglich Unterhaltung ist, sondern tief bewegen kann und damit versucht Veränderungen anzustoßen. Es ist zugleich eine einfühlsame Beschreibung der erschütternden Gefühlswelt Betroffener. Die Demütigung, der Selbsthass, die alles zerfressende Scham. Und immer wieder die Umkehrung der Schuld, das Victim Blaming, der Psychoterror der die Opfer in die Isolation und die Selbstzerstörung treibt. Wilpert meistert das schwierige Thema und führt mit leichter Sprache in herausfordernde Gedankengänge ein.

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