Sie haben sich erfolgreich zum "Mein Buchentdecker"-Bereich angemeldet, aber Ihre Anmeldung noch nicht bestätigt. Bitte beachten Sie, dass der E-Mail-Versand bis zu 10 Minuten in Anspruch nehmen kann. Trotzdem keine E-Mail von uns erhalten? Klicken Sie hier, um sich erneut eine E-Mail zusenden zu lassen.
Fullbanner Hawkins

Special zu "Wer das Feuer entfacht" - geschrieben von Paula Hawkins

Paula Hawkins über die Schauplätze

Der erste Schauplatz im Roman ist ein Kanalboot. Auch wenn sich der Roman um die Figur der Laura herum entwickelt hat, begann er doch immer mit einem Boot. Mit einer Leiche auf einem Boot.
Wenn ich spazieren gehe, was ich ziemlich oft tue, halte ich gern nach Plätzen Ausschau, an denen sich eine Leiche verstecken ließe. An denen eine Leiche tage- oder sogar wochenlang unentdeckt bleiben könnte. An denen eine Leiche entsorgt und vielleicht niemals gefunden werden könnte. (So gibt es eine Fußgängerbrücke über einer Schlucht außerhalb einer Kleinstadt in Umbrien, wo meiner Überzeugung nach ein schneller und einigermaßen kraftvoller Schubs ausreichen würde, damit ein Opfer ungesehen über die Brüstung kippt und für alle Zeiten verschwunden bliebe.)
Überall am Regent’s Canal liegen Hausboote, zwar nicht auf der gesamten Länge, aber an vielen Abschnitten; es gibt Anlegeplätze, wo sich eine enorme Vielfalt von schwimmenden Behausungen findet. Direkt am Kanal verläuft der Uferweg, auf dem die Pferde entlangtrotteten, die früher die Boote über den Kanal zogen, und wo sich nun Radfahrer, Jogger und Roller fahrende Kinder um den Platz streiten. Zu allen Tages- und Nachtzeiten kommen Spaziergänger auf Armeslänge an den Hausbooten vorbei, und die Neugierigeren (oder Dreisteren) unter ihnen könnten jederzeit einen Blick durch die Fenster werfen. (Etwa so, wie jemand vom Zug aus einen Blick in die Häuser entlang der Zugstrecke werfen könnte.)
Viele dieser Kanalboote sind wunderschön, frisch lackiert und liebevoll restauriert, einige haben Solarpaneele auf ihren Dächern und Miniatur-Gemüsebeete in Blumentöpfen auf dem Deck. Andere sind nicht mehr ganz so gut in Schuss, da blättert der Lack ab, und die Fenster sind verdreckt. Hin und wieder kommt man auch an einem aufgegebenen Boot vorbei, dessen Deck vermüllt ist, das mit Schlagseite im Wasser liegt und langsam im schlammig grünen Wasser versinkt. Und jeder, der so ähnlich tickt wie ich, beginnt beim dem Anblick automatisch zu überlegen, wie leicht sich auf so einem Boot eine Leiche verstecken ließe.

Regent’s Canal
Was Kanäle angeht, ist der Regent’s Canal relativ jung: Während der Kanal von Hertford Castle zur Themse schon zu Zeiten Elisabeths I angelegt wurde, wurde der Regent’s Canal erst Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gebaut. Er verbindet den Grand Junction Canal, der bis Paddington reichte, mit der Themse und führt von Little Venice im Westen quer durch London bis ins Limehouse Bassin im Osten. Die Handlung des Romans spielt rund um einen kurzen Abschnitt des Kanals im Herzen der Stadt: zwischen dem Islington Tunnel im Westen und der Cat and Mutton Bridge im Osten.
Dieser Teil des Kanals, an dem sich früher Manufakturen und Lagerhäuser reihten und wo heute Luxuswohnungen und Hipster-Cafés entstehen, ist wie ein Vexierbild. An einem stillen, sonnigen Morgen bietet sich hier eine Flussidylle, in der die Zweige der Trauerweiden die Wasseroberfläche küssen, während zankende Flusshühner vorbeiziehen. An einem Sommerabend drängt sich hier die Jugend. Spät nachts, wenn alles geschlossen hat, stellt sich ein unverkennbares Gefühl von Bedrohung ein, sobald man in die Dunkelheit unter den tiefhängenden Brücken eintaucht.
Vielleicht bin ich besonders empfindsam, aber dieses beklemmende Gefühl verfolgte mich dort in alle angrenzenden Straßen. Nehmen wir nur die Noel Road, die nördlich des Kanals verläuft. Hier wohnt und arbeitet Theo Myerson, und hier ließe sich für läppische dreieinhalb Millionen Pfund ein elegantes georgianisches Haus wie das von Theo erwerben. Aber sobald man nur ein wenig in der Zeit zurückgeht, wirkt das Viertel längst nicht mehr so schick: In den Sechzigerjahren wurden viele der viktorianischen Häuser an dieser Straße in beengte Wohnungen und Apartments aufgeteilt. In Nummer fünfundzwanzig lebte in genau so einem winzigen Apartment ein anderer Schriftsteller, der Bühnenautor Joe Orton. Hier schrieb er Loot und What the Butler Saw, und hier wurde von seinem Liebhaber Kenneth Halliwell zu Tode geprügelt, bevor der sich ebenfalls das Leben nahm.
Wer den Kanal überquert und ein Stück nach Süden wandert, kommt nach Spa Fields und sieht sich dort einem hohen Wohnblock gegenüber, in dem ich mir Lauras Wohnung vorstellte, in der ich sie in meiner Fantasie am Wohnzimmerfenster stehen und auf den hübschen grünen Fleck gegenüber schauen sah, ohne dass sie etwas von dessen grausamer Geschichte ahnte.
Im neunzehnten Jahrhundert war Spa Fields ein notorisch überbelegter Friedhof, auf dem, wie es in einem zeitgenössischen Zeitungsbericht hieß, Stapel von Särgen „in alle Richtungen ragten“ und die Totengräber „ruchlos“ alte Särge ausgruben, sie zerschlugen und verbrannten, um Platz für eine Neubelegung zu schaffen. Noch früher, im siebzehnten Jahrhundert, war Spa Fields als „Ducking-pond Fields“ bekannt und ein Ort, wo Besucher Entenjagden, Preiskämpfe und Stierkämpfe verfolgen konnten und wo in einem schrecklichen Winter sechs Kinder ertranken, nachdem sie im Eis des Teichs eingebrochen waren.
Jenseits von Spa Fields, hinter der Kirche St. James, könnte man links abbiegen in den Hayward’s Place, wo Irenes Häuschen steht und wo im siebzehnten Jahrhundert das Red Bull Theatre stand. Samuel Pepys besuchte es 1661; er sah dort eine Inszenierung von William Rowleys All’s Lost by Lust, die ihm wenig zusagte: „armselig ausgeführt“, urteilte er, „in heilloser Unordnung“. Heillose Unordnung war wahrscheinlich eine treffende Beschreibung für das Geschehen im Red Bull, dessen Gäste als vulgäre Rüpel verschrien waren und dessen Schauspieler gelegentlich verhaftet oder sogar eingekerkert wurden, weil sie einander „empörende Gewalt“ angetan hatten.
Je weiter südlich man kommt, desto blutiger wird die Geschichte, denn wer die City Road überquert, findet sich in Clerkenwell wieder, wo es einst Massengräber für Pesttote gab und wo der Maler und Grafiker William Hogarth seine „Gin Lane“ anlegte (eine Radierung, die vor den Gefahren des Schnapses warnte), wo der Bleeding Heart Yard lag (der Ort, an dem Lady Elizabeth Hatton das noch schlagende Herz aus der Brust gerissen wurde, weil sie einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte) und der Smithfield Market, auf dem William Wallace gehenkt, ausgeweidet und gevierteilt wurde und wo im sechzehnten Jahrhundert Queen Mary nicht weniger als 227 Menschen verbrennen oder bei lebendigem Leibe kochen ließ.
Verglichen damit wirken die Ereignisse in meinen Romanen doch eher zahm …

GENRE