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Kerstin Duken - Jahrhundertsommer

SPECIAL zu Kerstin Duken

Seelenscherben

Rezension von Daniela Steffgen

Berlin 2003. Die Hitze des Jahrhundertsommers taucht die Stadt in flirrendes Licht, das alle Konturen bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Eine junge Frau kämpft gegen den schleichenden Auflösungsprozess in ihrem Inneren.

Seit Iris eines Nachts in einem dunklen Kreuzberger Hinterhof niedergeschlagen und ausgeraubt worden ist, verflüchtigen sich alle Sicherheiten ihres bisherigen Lebens. Heftige Angstschübe lassen ihr Selbstbewusstsein in tausend Scherben zerspringen. Die erfolgreiche Werbestrategin, die für Produkte und Firmen klare Linien und Erscheinungsbilder entwirft, verliert sich in den Untiefen ihres Traumas.

Iris spricht mit niemandem über das Ereignis, geht nicht zur Polizei. Besucht weiter Partys, trifft Freunde, verdient Geld für Miete, Alkohol und Zigaretten. Niemand sieht, wie sie sich während heftiger Panikattacken in ihrer Wohnung verschanzt. Einen Teil der Fassade kann sie aufrechterhalten, denn sie erlebt keinen klassischen Zusammenbruch - vielmehr scheint es, als habe plötzlich etwas in ihr angehalten: "Es ist, als sei mein Herz eine Uhr, die aufgehört hat, zu ticken. Dinge geschehen, aber ich habe kein Maß, keine Einheit für sie." Und obwohl es ihr gelingt, sich allmählich aus diesem Sumpf herauszukämpfen, bleibt ihr altes Selbst unwiederbringlich verloren.

Orientierungssuche
Mit diesem einfühlsam komponierten Dreiakter um Iris' altes Leben, ihre Verletzung und Wiederaufrichtung hat Kerstin Duken 2007 die Jury des BRIGITTE-Romanpreises überzeugt. Geschrieben hat sie die Geschichte in den Nächten, als Ausgleich zur Arbeit. Die 41-jährige ist, wie ihre Protagonistin, freiberufliche Werbetexterin, lebt seit 14 Jahren in Berlin und hat somit auch Versatzstücke des eigenen Lebens und Arbeitens in ihren Romanerstling eingebaut. Daneben füllt Duken den "Jahrhundertsommer" mit allem, was ein Buch lesenswert macht: Sätze, die sich im Hirn festhaken und von großer psychologischer Beobachtungsgabe zeugen und einer starken Sprache. Ab der ersten Silbe trägt ein geschmeidiger Wortstrom den Leser durch die Geschichte. Während Iris' Panikattacken rasen die Gedanken atemlos nach vorn, lassen ein Gefühl von Enge und Beklemmung entstehen; ein anderes Mal pulsieren die Worte der jungen Frau vor Energie und nicht zuletzt untergründigem Witz. Die Sprache spiegelt jedoch vor allem eines in Iris' Leben wider: Ihre zahlreichen verzweifelten Versuche, die Orientierung wieder zu erlangen, das Leben in den Griff zu bekommen, eine Antwort zu finden auf die Frage nach dem Sinn.

Borderline
Iris sucht nach Sexualpartnern beiderlei Geschlechts, nach neuen Wohnungen, nach Kleidung. Selbst nach Schmerz. Ihre inneren Verletzungen sucht sie zu verdrängen, während sie sich äußere absichtlich zufügt. Sie schneidet sich die Unterarme auf, um Blut fließen zu sehen, versteckt die Wunden, besucht anschließend Partys, geht aus. Die Schnitte und Narben sind vielleicht die einzig wirklich sichtbaren Veränderungen an ihr. Die Personen in ihrem Leben, die dies wahrnehmen, reagieren unterschiedlich darauf: Die unberechenbare Ana, mit der sie die Nächte verbringt, schweigt dazu, während ein Kollege aus der Werbebranche ihre vermeintliche Schwäche ausnutzen will und droht, sie bei ihren Auftraggebern als labile und unzuverlässige Person zu diskreditieren.

Der weite Weg zurück
Letztendlich zwingt die Suche nach dem Pfad zurück ins Leben Iris dazu, sich mit dem Überfall auseinanderzusetzen, den sie aus ihrem Bewusstsein verbannt hatte. Die Frage nach den Motiven für derartige Akte brutaler Gewalt und für kriminelles Verhalten im Allgemeinen führt sie als Zuschauerin in Gerichtsverhandlungen. Zufällig ergibt sich eines Tages die Gelegenheit, für ein Magazin über ihre Beobachtungen eine Kolumne zu schreiben. Die juristische Fachsprache fasziniert sie und eröffnet ihr ein neues System von Ordnungen und Bedeutungen und hilft ihr auf ihrem weiten Weg aus dem Trauma. Vor allem eines wird ihr durch die Gerichtsver-
handlungen klar: dass bereits kleine Gegebenheiten und Abweichungen im Leben eines Menschen ausreichen, um ihn aus der Bahn zu werfen - und dass dies nicht nur für die Täter, sondern auch für die Opfer gilt.

"Jahrhundertsommer" zeichnet das fesselnde Porträt einer jungen Frau, die unvermittelt vor den Splittern des eigenen Ichs steht und mit ihren persönlichen Abgründen und Untiefen konfrontiert wird. Ein eindringlicher Roman über die Zerbrechlichkeit von Identitäten, über tiefe Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Doch Heilung ist möglich. Das ist die Botschaft der Autorin - eine Heilung allerdings, die die sichtbaren und unsichtbaren Narben allenfalls verblassen, aber nie ganz verschwinden lassen wird.

Daniela Steffgen
München, Oktober 2007