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Kerstin Duken - Mehr als du siehst

SPECIAL zu Kerstin Duken

Tiefgründig

Rezension von Sabine Schmitt

Ihre Geschichten schreibt sie meist nachts. „Weil die Nacht weicher ist“, offenbarte sie unlängst einem Frauenmagazin, „da darf man alles“. Regelmäßig, zwei, drei Stunden lang, gönnt sich Kerstin Duken diesen Luxus. Schreiben sei ihr liebster Zustand, sagt sie.

Diese Leidenschaft brachte ihr 2007 erstmals Anerkennung bei einem größeren Publikum ein. In nur zwei Monaten hatte Duken ihren ersten Roman Jahrhundertsommer niedergeschrieben. Auf den Rat einer Freundin hin, hatte sie das fertige Manuskript beim Brigitte-Romanpreis eingereicht. Eine Jury, zu der die Schriftstellerinnen Juli Zeh, Birgit Vanderbeke und deren Kollege Wladimir Kaminer gehörten, wählte es unter den 1610 eingesandten Manuskripten zum Besten des Wettbewerbs. Der Goldmann Verlag erhob den Roman umgehend zum Spitzentitel. So avancierte die Werbetexterin aus Berlin über Nacht zur hoch gelobten Literatin. Nun hat sie mit Mehr als du siehst, einer Sammlung von Kurzgeschichten, ihr zweites Werk veröffentlicht.

Abgründe
Auch diese elf Geschichten scheint die Autorin, Jahrgang 1966, nachts verfasst zu haben. Nachts wiegt die Einsamkeit schwerer, ballen die Ängste sich zu noch zäheren Klumpen, sind die Selbstzweifel bohrender als bei Tag. Und Gefühle wie diese sind es, von denen Dukens Geschichten erzählen. Nachts öffnen sich tiefe Abgründe, Siphons menschlicher Existenz, in die einen Blick hineinzuwerfen, die Autorin den Leser einlädt. Sie lässt ihre Figuren im Strudel einer kompromisslos klaren Sprache über dem Abfluss kreiseln. Die Gefühlswelt ihrer Protagonisten gibt sie – ebenso schonungslos wie Edward Hopper auf seinem berühmten Bild Nighthawks ein paar verirrte Cafébesucher der Neonbeleuchtung – den sezierenden Blicken Außenstehender preis. Identität, Selbstbild und Schicksal ist das, was sie interessiert.

Einsam in Berlin
Isolation und Einsamkeit sind Motive, die Kerstin Dukens Geschichten beherrschen. Auf der Suche nach Nähe und einer streichelnden Hand irrt der Held aus Kentern durch die drückende Sommerhitze der Single-Hauptstadt.

„Ein Dreck, ich hasse das. Alles schwitzt, und du riechst Sachen, die du niemals riechen wolltest, bist dauernd geblendet, alles überheizt, man hat das Gefühl, jeder Schritt voran ist ein Sieg durch eine Armee von Bakterien, Ausdünstungen und dumpfen Phantasien.“

Neben der Schwüle vernebeln ihm pochende Zahnschmerzen die Sinne. Arbeit hat er keine, schon seit langem ist ihm die Bodenhaftung abhanden gekommen. Zu unbeherrscht, zu gewalttätig und immer öfter zugedröhnt. Er war schon einmal im Knast, das macht es schwierig, einen Job zu finden. Außerdem verliert er, wenn ihm die Wut so richtig das Hirn vernebelt, schon mal die Kontrolle. Wie etwa bei der Obdachlosen, die er in seine Bude schleppt. Zu dumm nur, dass sie sich weigert, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Das bringt ihn richtig in Rage. Dann regnet es weinrote Tropfen in sein Gehirn und er schlägt einfach zu. Wieder und immer wieder ...

Traumata
Die alte Dame aus Verschwinden hat am Ende nicht nur ihren Platz in der Gesellschaft, sondern auch sich selbst verloren. Sensibel und bewegend beschreibt Duken das widersprüchliche Erleben und die innere Not einer demenzkranken alten Frau, der ihr letzter Umzug im Leben bevorsteht.

Ein traumatisches Erlebnis hat den Typen aus Mehr als du siehst, der Titelgeschichte, aus der Bahn geworfen. Unter einem Fenster kauernd, erwartet er die Ankunft eines Freundes, der ihm bei etwas Wichtigem helfen soll. Etwas, was er alleine nicht zu tun vermag.

„Ich sitze mit dem Rücken an der Heizung, und durch das Fenster, das da hinter und über mir ist, fällt die Sonne, so sieht man auf dem Parkett vier helle Rechtecke, und über dem Rechteck unten links steigt so etwas wie Rauch auf, keine Ahnung woher der Effekt kommt, vielleicht die Heizungsluft, warum weiß ich so etwas nicht, schon tausend Mal beobachtet, aber immer nur eine halbgare Erklärung parat gehabt, Wissen ist etwas anderes.“

Erst am Ende der Geschichte offenbart Duken dem Leser, was anfangs weder zu erkennen noch zu erraten war, die Risse unter der Oberfläche.

Scheinwelten
Mit Oberflächen gibt Kerstin Duken sich nicht zufrieden, sondern sie sieht genau hin. Viele ihrer „Helden“ scheinen auf den ersten Blick normal. Sie bewegen sich gewandt durch die makellose Welt der Werbeagenturen, fahren Porsche, ihre Wohnungen sind ebenso durchgestylt wie das Outfit. Die Brüche werden so noch viel deutlicher: Die tadellos aussehende Dreißigjährige, deren inneres Gleichgewicht von dem subtilen Rhythmus von Essen und Erbrechen abhängt, der erfolgreiche Yuppie, der die Trennung von seiner Freundin mit Arbeit und Drogen zu kompensieren versucht, bis ihm allmählich die Kontrolle und dann das Leben selbst entgleitet.

„Das Leben ist eine Müllkippe von unerwünschten Situationen“, lässt Duken ihre Protagonistin in Nasenbluten sagen. Und jede andere Figur in dem Buch würde dies wohl bestätigen. Auch wenn einige glauben, das Schicksal doch noch zwingen zu können.

Chemie
In liebende Augen kann ein Stalker nicht einsehen, dass seine Freundin ihm nach einer eher kurzen Beziehung den Laufpass gegeben hat. Die Chemie hatte nicht gestimmt. Im verzweifelten Bemühen herauszufinden, woran es lag und was sich tun lässt, greift er sogar zu einem Chemie-Baukasten:

„Er spürte, dass es an etwas ganz Einfachem, etwas leicht Korrigierbarem lag. Er las, dass die Triebfeder aller chemischen Reaktionen das Bestreben der beteiligten Atome war, die stabile Edelgaskonfiguration zu erreichen, durch Elektronentransfer oder die Bildung von Elektronenpaaren. Dazu gab es eine plausible Zeichnung von zwei Chlor-Atomen. Als er Versuch 163 machte, mitten in der Nacht, allein in seiner Wohnung, wusste er, er war auf der richtigen Spur. Wasser, Kupfersulfat, Eisenspäne: das Reagenzglas wurde warm. Eine exotherme Reaktion. Man musste Energie freisetzen oder zuführen, nur dann passierte etwas ...“

Abends schleicht er um ihr Haus, beobachtet mit Argusaugen ihre Wohnung. Als kein Licht hinter den Fenstern aufscheint, lauert er im Café gegenüber auf ihre Rückkehr. Nichts peinigt ihn mehr, als nicht zu wissen, wo sie steckt. Ob sie sich mit jemandem getroffen hat? Am Ende sogar mit einem Kerl? Als sie auch spät noch nicht zurück ist, hält er es nicht mehr aus. In ihre Wohnung einzudringen, fällt ihm nicht schwer. Damit kennt er sich aus. Ungeniert bewegt er sich zwischen ihren Sachen, als gehörten sie ihm, weil sie ihm gehöre. Bis sich endlich ein Schlüssel im Schloss dreht ...

Sabine Schmitt
Mainz, Februar 2009

Mehr als du siehst

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