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Ein paar Gedanken zu "In die Arme der Flut"

NARZISS LEBT

Die Leser von Winter in Maine wissen vielleicht noch, wie die Herrschaft des riesigen Waldes die Atmosphäre des Buches bestimmte, in den Beschreibungen wie in den Gedanken der Hauptfigur, die einem Flüstern glichen. Wenn Julius Winsome redete, sprach der Wald.
In meinem Roman In die Arme der Flut ist es das Wasser, das spricht. Ein gewaltiges, herrliches, unbarmherziges Wasser, das die wichtigsten Erlebnisse - Kindheitserinnerungen und Umbrüche im Lauf eines Lebens - heraufbeschwören oder blitzartig die Existenz eines Menschen auslöschen kann.
Das Fließen des Wassers zeigt sich auch im Erzähltext. Eine Flut durchströmt die Syntax, die zwischen kurzen und längeren Formulierungen wechselt. Mal treiben die wellenartigen Passagen die Handlung voran, mal verlangsamen sie sie und geben der psychologischen Entwicklung den Vorrang. Die gespenstischen Möwen, die am Anfang des Buches am Himmel schweben, stellen die geflügelten Geister des Meeres dar - so wie der Nebel die zeitweilige Verkörperung des Meeres ist und es ihm ermöglicht, in die menschliche Dimension einzudringen, bis er vom Sonnenschein aufgelöst wird.
Wasser nimmt die Form des Gefäßes an, in dem es sich befindet. Die Handlung versucht nicht, über das hinauszugehen, was die Geschichte dem Leser vor Augen führt. Der Nebel und die Möwen verwandeln sich in andere Bilder und Erinnerungen und erfüllen die Vorstellungskraft. In diesen Passagen genießen die Erfahrungen des Lesers überall Vorrang, wo normalerweise die Romanhandlung jeglichen Raum für sich beansprucht. Inhalt und Form dürfen nicht im Widerspruch stehen. Ich glaube an die geistige und emotionale Autonomie des Lesers. Ich stelle die Dinge bloß dar. Irgendwann müssen Worte sich in eine Erfahrung verwandeln, die Worte übersteigt, denn allzu oft engen sie die Geschichte ein, statt sie zu befreien.
Wenn der Roman ein Thema hat, dann ist es die fehlende Besinnung in unserem Leben. Einst blickte Narziss ins Wasser einer Quelle und verliebte sich in sein Spiegelbild. In unserer heutigen Zeit ist Narziss wieder am Leben. Er lebt, weil das Spiegelbild auf dem Display eines Handys zu seicht ist, um darin zu ertrinken. Er kann sich nur darin treiben lassen. Die Spiegelung dauert nur einen Augenblick. Und auch die nächsten Spiegelung dauert nur einen Augenblick.
Luke Roy ist der Anti-Narziss. Er starrt in den unter ihm strömenden Fluss und sieht dort keinen Beweis seiner Existenz. Er versteht nicht, warum er sich in dem Leben, das er führt, nicht erkennen kann. Doch sein Nachdenken wird ihn nicht retten.
Ein beherrschendes Motiv von In die Arme der Flut sind Gesichter, die das falsche Licht von Textnachrichten ausstrahlen und dabei so gut wie nichts wahrnehmen. Die Moralgeschichte ist auf den Kopf gestellt. Unsere Welt ist von Toten bevölkert. Sie reagieren nicht auf die Reize von Gedanken, sondern von Informationen. Aufgebrachte Menschenmengen bilden sich, als hätte jemand sie angeschaltet. Sie sind Tote, die in eine Welt eindringen, die ihre Anwesenheit nicht überleben kann.
Die Ursache dieser Leblosigkeit sind die sozialen Medien. In meinem Roman bringen Twitter und Facebook den Tod hervor. Facebook ist die Arena, in der aus Gewinnstreben menschliches Leid, insbesondere das Leid von Kindern, präsentiert wird.
An dieser Stelle möchte ich einen Satz formulieren, der etwas benennt, das die Dimension des Romans übersteigt:
Werbefachleute sind unsere neuen digitalen Könige.
Lassen Sie es mich weiter fassen. Leute, die im Verkauf, in der Erzeugung und Befriedigung von Wünschen versiert sind, haben den Kampf gegen unsere zeitaufwendigere Sinnsuche gewonnen. Sie sind die Dämonen, die unsere Kinder von ihrer Zukunft weg in eine künstliche Dämmerung ohne natürliches Tageslicht führen, in der die Zeit nicht mehr existiert. Und in dieser Dämmerung gehen sie sich selbst verloren und werden von ihrer Kindheit getrennt. Kinder begehen in beispielloser Zahl Selbstmord. Der Roman geht davon aus, dass sich dieser Trend beschleunigen wird. Unser geistiger Unterbau wird von Wikipedia erstellt, dessen wahres Geschäft der Diebstahl von Identität und geistigem Eigentum ist und auf der Zerstörung von Urheberschaft zugunsten einer idealisierten Gleichheit beruht. Bei Wikipedia findet man alle Antworten, Wikipedia ist einfach überall. Wir haben die Welt Werbefachleuten und Dieben überlassen.
Unsere geistige Tradition hat den Wert des Sinnzusammenhangs höher veranschlagt als den der Information und Qualität höher als Inhalt. Ist die Kultur des generationenübergreifenden Lernens stark genug, um der unweigerlich in Zwang übergegangenen Macht der Beeinflussung, in der Botschaft und Medien identisch sind, zu widerstehen? Mein Roman sagt nein.
Ich kann mir vorstellen, womit sich Außerirdische bei einem Besuch auf der Erde als Erstes befassen würden. Sie würden sich den Meeren zuwenden, die zwei Drittel des Planeten bedecken. Sie würden mit den hochintelligenten Geschöpfen kommunizieren, die die Meerestiefen bevölkern, und rasch Kommunikationsmethoden erlernen, die uns noch unbekannt sind. Wenn Außerirdische ein Antriebssystem entwickelt hätten, um die Weiten des Weltraums zu durchqueren, wären sie wohl auch so intelligent, den Anschein und die Projektion von Macht außer Acht zu lassen. Sie dürften imstande sein, gleichzeitig mit einer Vielzahl von Geschöpfen zu "reden", die über die ganze Welt verstreut sind. Vermutlich würden sie die Menschheit als ein Virus betrachten, das größtenteils an Land vorkommt und alles zu töten versteht, von dem es nicht selbst bedroht wird - sofern es nicht gerade seine eigene Art ausradiert. Ja, ich glaube, dass es Meereslebewesen - anders als uns - unter der Herrschaft von Außerirdischen ziemlich gut gehen würde.
Im Hintergrund meines neuen Romans wechseln Ebbe und Flut unter dem Einfluss des Mondes, wie sie es schon lange vor dem Erscheinen des Menschen taten. Die Wellen rollen in einem zeitlosen Rhythmus ans Ufer, während die neue digitale Lebensform lernt, ihrem eigenen Antrieb zu folgen, und ihre ersten Reiche erschafft.

GERARD DONOVAN, 5. Oktober 2021
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel

"Es ist ein Roman über das was Menschen Menschen antun." - Elke Heidenreich

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