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Rezension zu
Walkaway

Intelligente Zukunftsvision zwischen Dystopie und Utopie

Von: Mikka Gottstein aus Hilter
05.08.2018

Wenn das Gehirn ein Muskel wäre, hätte ich jetzt Muskelkater. Die gute Art, bei der man spürt: ich habe mich so richtig gefordert, das war es wert. Denn das Buch regt zum Nachdenken an – und das 762 Seiten lang, in denen die Handlung oft zurücktritt hinter den Fragestellungen, die in den Dialogen aufgeworfen werden. Sozialökonomische, ethische, politische, technologische, philosophische Themen… Ich empfand das selten als anstrengend, sondern meist als anregend und hochinteressant. Man sollte an das Buch jedoch mit der Erwartung herangehen, dass man viel Zeit investieren muss, während der die Gehirnzellen Überstunden schieben. Die Welt des Buches ist scheinbar nur einen Wimpernschlag von unserer entfernt. Die Technologie ist der unseren überlegen, aber durchaus denkbar und glaubhaft. Die Gesellschaft unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht sonderlich von der heutigen. Aber dies ist die Welt, auf die wir sehenden Auges zusteuern: die sozialen Ungerechtigkeiten sind eklatant, Klimawandel und Umweltverschmutzung haben große Teile der Erde unbewohnbar gemacht. Eine sehr kleine Gruppe ‘Zottas’ (obszön reiche Menschen) regiert die Welt, während die Ärmeren sich einlullen lassen von den sozialen Medien und der Suggestion, auch sie könnten Zottas werden, wenn sie sich nur eifrig genug im Hamsterrad abstrampeln. Dies ist eine Welt kurz vor der Katastrophe, dem Zusammenbruch aller Werte. Der Supergau des Kapitalismus. Und hier schafft das Buch den Übergang von Dystopie zu Utopie. Denn es gibt eine immer größere Anzahl von Menschen, die die Gesellschaft ändern wollen – indem sie fortgehen und alles hinter sich lassen: den Materialismus und die absurden Hierarchien, die Ich-Bezogenheit und das blinde Erdulden des eigenen Lebens. Die Walkaways kämpfen nicht gegen die, die das System bewahren wollen – sie nehmen Gegenden in Besitz, die schon vor langer Zeit aufgegeben wurden, und bauen sich ihre eigene Gesellschaft auf. Natürlich geht das nicht ohne Konflikte. Aber es ist eine erstaunlich plausible Vision der Zukunft. In den Reihen der Ausssteiger befinden sich auch einige Wissenschaftler, und so kommt es schon bald zu einem Wettrennen: können die Walkaways das Geheimnis der Unsterblichkeit ‘Open-Source’ (also allen zugänglich) machen, bevor die Zottas es für sich (und nur für sich) vereinnahmen? Durch die verschiedenen Charaktere sieht man die angesprochenen Fragen aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln, was es dem Buch erlaubt, beides zu sein: Science Fiction und Philosophie. Nicht alles wird erklärt. Vieles an Hintergrundgeschichte muss man einfach hinnehmen, weil das Buch sonst wahrscheinlich noch 800 Seiten länger wäre. Aber der Autor ist ein Meister darin, die erstaunlichsten Details beiläufig in Nebensätzen einfließen zu lassen, so dass man das Gefühl bekommt, man verstehe die Welt im Großen, weil man sie im Kleinen kennt. Das ist in meinen Augen umwerfend originell und einfallsreich. Spannend ist es auch, denn so friedlich die Walkaways (meist) sind, so skrupellos und aggressiv gehen ihre Feinde gegen sie vor. Ihre Siedlungen sind immer in Gefahr, zerbombt zu werden, während sie in den Medien als die Unruhestifter und Terroristen dargestellt werden. Die Charaktere bestechen durch unbemühte Diversität. Was sie vor allem sind, ist authentisch und komplex – ungeachtet von Hautfarbe oder Sexualität. Die Handlung erstreckt sich über einige Jahre, in denen die wichtigsten Charaktere eine immense Entwicklung durchmachen, sich dabei aber selbst immer treu bleiben. Sie begehen furchtbare Fehler, aber es sind die Fehler, die sie machen mussten. Sie feiern Erfolge, und es sind die Erfolge, die nur sie so erreichen konnten. Der Schreibstil ist so intelligent wie die Handlung, dabei aber erstaunlich locker und fast schon jugendlich. Dazu kommt eine Dosis Humor, und verbunden mit der zum Nachdenken anregenden Handlung ist das meines Erachtens eine großartige Mischung.

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