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Rezension zu
Walkaway

Walkaway - Aleitung zur Rebellion und Utopie

Von: Thursdaynext
01.07.2018

Cory Doctorow hat mich vor sieben Jahren schon mit „Little Brother“ überrascht und begeistert. Mit Walkaway setzt er noch einen drauf. Wir leben in einer Untergangsstimmung, die Zukunft ist düster, die Umverteilung der vorhandenen Ressourcen ist in vollem Gange, Lobbyismus zugunsten der Konzerne, einige wenige horten das Kapital, Lohn- und Gehaltsempfänger sind Sklaven des Systems, das durch Überwachungstechnik die unzufrieden Massen, die sich abstrampeln und nebenher noch versuchen, ihr kleines persönliches Glück zu finden, in Schach hält. Immer mehr fallen aus diesem System, weil es keine Arbeit oder keinen Platz für sie gibt, Tyrannen, Despoten und Superreiche regieren die Welt. Das klingt eigentlich alles wie die tägliche, mittels kognitiver Dissonanz gut verdrängte Dystopie in der wir leben, doch das ist das „Default“ in der von Doctorow beschriebenen Welt. Ähnlichkeiten zu unserer dürften nicht zufällig sein. In dieses Szenario steigt Doctorow mit Walkaway (Weggehen) ein. Es gibt nicht wenige Menschen, die das System satt haben, Unzufriedene, Utopisten, Anarchos, Hippies, Menschen mit der Tatkraft und dem Drang, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Für das Default und die superreichen Zottas sind sie Terroristen. Zersetzende Elemente, die zwar nicht mit Gewalt agieren, aber allein dadurch, dass sie das System in Frage stellen, sich dem Konsum entziehen und eine bessere Gesellschaft schaffen wollen, als Angreifer, Feinde betrachtet und bekämpft werden. Sobald sie eine critical mass, eine kritische Masse erreicht haben schlägt das Default, in Gestalt der Zottas, der Supperreichen Weltenlenker zu. Zerstört, tötet, massakriert und die Fakten, die in den feeds erscheinen, sind so gehalten, dass das System als die gute Seite erscheint. Die Walkaways eint nur eines, ihr Weggehen. Werden ihre Wohnorte zerstört, mal wieder ein Schlag gegen sie geführt, ein Exempel statuiert, gehen sie, bauen woanders neu auf, sie weichen aus, ziehen weiter. Fablabs oder Fabber, die aus Schrott das benötigte Material zum Neuaufbau herstellen (modifizierte 3D Drucker), sind dabei ebenso hilfreich wie die etwas weiterentwickelte Zukunftstechnologie, die direkt auf heutigen, bereits vorhandenen Möglichkeiten basiert, die der Autor seinen Protagonisten zur Verfügung stellt. Wichtig sind aber die Ideen in ihren Köpfen, der Wille zu einer freien, besseren Gesellschaft. Die Anleihen dafür sind alle schon einmal angedacht worden. Sie probieren aus, leben eine Gesellschaft, die auf Geschenken beruht, keine Tauschgeschäfte, keine Gegenleistung, das Notwendigste ist vorhanden, wer arbeiten und helfen möchte, bringt sich ein. Auch hier gibt es unterschiedliche Denkansätze. Wollen die einen Wettbewerb und Status abschaffen, so glauben die anderen die Gesellschaft mit Bestenlisten zu optimieren und mehr Leistung aus allen rausholen zu können. Ein ideologischer Kampf im Mikrokosmos der Walkaways. Die glauben „der alte Karl (Marx) hätte die richtige Diagnose, aber das falsche Mittel“ gefunden. Die Walkaways versuchen das richtige Mittel zu finden. An vorderster Front dabei, die charismatisch dargestellte Limpopo, die seit Jahren das Walkaway lebt. Dabei ist sie innerlich zwiespältig, gibt sich nach außen aber versiert. Interessant sind ihre inneren Kämpfe, auch wenn das ihr zugeschrieben Charisma bei mir nicht ganz rüberkam. Die soziale Komponente darf beim Aufbau einer neuen Gesellschaft nicht unterschätzt werden. So zum Beispiel mittels der zielorientierten sozialen Ignoranz – Heuchelei, bei der ein Vollpfosten, der es verbockt hat, nicht als solcher bezeichnet wird, sondern man hilft ihm sein Gesicht zu wahren, indem man ein „manierliches Kabuki“ ausführt und in der dritten Person spricht: „Diese Strebe steht nicht lotrecht“ , statt „Du hast die Strebe falsch eingebaut.“ Im Gegensatz zur Gamifizierung dem Spielchen um die besten Ränge auf der Liste, ist die Effektiviät erheblich größer, weil es den Menschen hilft, das Gesicht zu wahren. Man nennt es auch den „Ja wie ist das denn passiert?“ Effekt. Vollpfosten als solche zu bezeichnen führt nicht zum gewünschten Ergebnis, es schafft nur Unzufriedenheit, Streit, Unmut und letztendlich mindere Qualität. Auch das gilt es zu beachten. Doctorow kennt viele dieser soziologischen Studien, Theorien und Forschungsergebnisse, und er streut sie en passant immer wieder ein. „Das Walkaway Dilemma“ ist eines dieser Gedankenspiele zur Erschaffung einer besseren Welt, das in der Praxis aufgrund der menschlichen Natur ein großes ethisch-moralisches Problem darstellt: „Wenn du nimmst ohne zu geben, bist du ein Betrüger. Wenn du überwachst, was die anderen geben und nehmen, bist du ein widerlicher Buchhalter. […] Du musst gut sein wollen, sollst dich aber nicht gut fühlen, weil du so gut bist.“ S. 127 Limpopo ist die Empfangsdame im Belt & Braces einem Walkaway Haus samt Siedlung für die Neuangekommenen potentiellen Walkaways. Hubert Etcetera, Seth und Zotta Tochter Natalie Redwater werden von ihr in die Ideologie und alles übrige eingeführt . Sie nutzen die Gelegenheit, sich zumindest dem Namen nach neu zu erfinden. Etcetera der so heißt, weil seine Eltern bei der Namensgebung quantitativ sehr großzügig waren behält Etcetera, Seth wird zu Gizmo von Puddleducks und Natalie zu Stabile Strategie. Eine nette Sache sich immer wieder neu erfinden zu können. Die sich durch den Roman zieht. Neues lernen und anwenden, und so beginnt dieser Roadtrip in und für eine bessere Welt. Ein Trip, der politische und private Konflikte auslösen wird und sich ab und an ein wenig zieht, besonders wenn man als Vielleser die meisten der vom Autor eingebrachten Theorien und Philosophien bereits kennt. Doch nirgends außer bei den Sexszenen, – sie sind nicht schlecht nur überflüssig, aber SEX SEllS also kauft euch das Buch! 😉 – und selbst die sind so politisch korrekt, dass sie allein deshalb eine Daseinsberechtigung haben, könnte dieser Trip gekürzt werden. Ein wenig Ausdauer ist also vonnöten, um zu erfahren wohin die Reise geht, doch diese wird belohnt mit einem fulminanten Ende. Walkaway hat mich begeistert, weil es von einem gut vernetzten „Silicon Valley“ Autor stammt, der sich bestens auskennt mit dieser Denkfabrik der Zukunft, dabei aber nicht nur die Technologie im Blick hat, sondern die menschliche Natur und die daraus folgenden Eigenheiten immer im Hinterkopf behält. Er weiß darum, dass es nur mit den Menschen und dem was in ihren Köpfen ist, eine Veränderung geben kann. Besonders fasziniert und entzückt hat mich aber die Tatsache, dass endlich einmal wieder eine Utopie zur Zukunft der Menschheit geschrieben wurde. So bizarr und ekelhaft politische Entwicklungen in letzter Zeit waren, sie können das Erreichte und bereits Gedachte: Kultur, Demokratie, Menschenrechte, Umweltschutz, Gleichheit nicht rückgängig machen. Das alles gibt es noch und wir sollten nicht vergessen wie viele Menschen daran festhalten und sich dafür einsetzen. Doctorow zeigt auf, wie immens wichtig es ist, die Zukunft aktiv mitzugestalten. Und er gibt Handreichungen in Form von Ideen und Alternativen, eröffnet Möglichkeiten. Deswegen wünsche ich mir, dass dieses Buch möglichst viele Jugendliche und junge Erwachsene erreicht und alle, die eine wirklich gute Utopie gebrauchen können. Doctorow hat einen großartigen gesellschaftsphilosophischen, modernen, interaktiven (zum Mit – und Selbstdenken) Zukunftsroman geschrieben, den man sich nicht entgehen lassen darf.

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